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Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit

Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
und der Deutschen Bischofskonferenz
zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland


Herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Herrenhäuser Straße 12, 30419 Hannover, und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstraße 163, 53113 Bonn

Inhalt

 

Vorwort

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz legen ihr Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland in einer Zeit vor, in der mutiges und weitsichtiges Handeln besonders gefragt ist. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland hat einen Höchststand nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Der Sozialstaat ist an Belastungs- und Finanzierungsgrenzen gestoßen. Die traditionelle Sozialkultur befindet sich im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung in einem starken Wandel und hat sich an vielen Stellen aufgelöst. Anspruchsdenken und Egoismus nehmen zu und gefährden den solidarischen Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Geleitet und ermutigt durch das christliche Verständnis vom Menschen, durch die biblische Botschaft und die christliche Sozialethik wollen die Kirchen ihren Beitrag zu der notwendigen Neuorientierung der Gesellschaft und Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft leisten. Ihr Anliegen ist es, zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen und dadurch eine gemeinsame Anstrengung für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit möglich zu machen. Die Kirchen sehen es dabei nicht als ihre Aufgabe an, detaillierte politische oder ökonomische Empfehlungen zu geben. Es ist auch nicht ihre Sache, zu aktuellen politischen Streitfragen Stellung zu beziehen und eine Schiedsrichterrolle zu übernehmen. Die Kirchen sehen ihren Auftrag und ihre Kompetenz vor allem darin, für das einzutreten, was dem solidarischen Ausgleich und zugleich dem Gemeinwohl dient.

Das Wort der Kirchen ist in sechs Kapitel gegliedert. Kapitel 1 nimmt eine Würdigung des Konsultationsprozesses vor, der der Erstellung des gemeinsamen Wortes vorausgegangen ist. Die Kapitel 2 bis 5 orientieren sich an dem Strukturprinzip „sehen - urteilen - handeln". Im Schlußkapitel soll deutlich gemacht werden, daß das gemeinsame Wort für die Kirchen auch Selbstverpflichtung bedeutet.

Die Kapitel 2 bis 5 haben einen unterschiedlichen Charakter. Kapitel 3 und 4 weisen auf die Prinzipien und Maßstäbe hin, die nach Ansicht der Kirchen unabdingbare Voraussetzung für eine solidarische und zukunftsgerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sind. Vor allem um diesen Grundkonsens geht es den Kirchen. Dazu erhoffen sie sich eine breite Zustimmung. Die Konkretisierungen und Richtungshinweise in den Abschnitten 2 und 5 hingegen sind ein Beitrag zur öffentlichen Verständigung über Probleme und mögliche Lösungswege.

Den sechs Kapiteln vorangestellt ist eine Art Hinführung, die die Grundgedanken systematisch zusammenfaßt. Dieser „Kurztext" kann und soll das ausführliche Wort nicht ersetzen. Aber er erleichtert es, die Intention der Kirchen zu erfassen und sich über ihre Grundanliegen einen Überblick zu verschaffen.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz haben ihr Wort in einem breit angelegten Konsultationsprozeß vorbereitet. An der Durchführung des Prozesses haben sich weitere Kirchen beteiligt. Zahlreiche Stellungnahmen sind eingereicht worden. Allen, die auf die eine oder andere Weise mitgewirkt haben, ist sehr herzlich zu danken.

 

Hannover/Bonn, am 22. Februar 1997

 

Landesbischof Dr. Klaus Engelhardt

Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Bischof Dr. Karl Lehmann

Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

 

Hinführung

(1) Das vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und von der Deutschen Bischofskonferenz vorgelegte Wort der Kirchen trägt den Titel: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit". Es bezieht sich auf die aktuelle Diskussion über Maßstäbe der Wirtschafts- und Sozialpolitik. In ihr sind zwei Begriffe in den Vordergrund getreten: Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit. Es genügt nicht, das Handeln an den Bedürfnissen von heute oder einer einzigen Legislaturperiode auszurichten, auch nicht allein an den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation. Zu kurzfristigem Krisenmanagement gibt es manchmal keine Alternative. Aber das individuelle und das politische Handeln dürfen sich darin nicht erschöpfen. Wer notwendige Reformen aufschiebt oder versäumt, steuert über kurz oder lang in eine existenzbedrohende Krise.

(2) Die Kirchen treten dafür ein, daß Solidarität und Gerechtigkeit als entscheidende Maßstäbe einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialpolitik allgemeine Geltung erhalten. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, in der gegenwärtigen Situation auf Perspektiven des christlichen Glaubens für ein humanes Gemeinwesen, auf das christliche Verständnis vom Menschen und auf unveräußerliche Grundwerte hinzuweisen. Solidarität und Gerechtigkeit sind notwendiger denn je. Tiefe Risse gehen durch unser Land: vor allem der von der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufene Riß, aber auch der wachsende Riß zwischen Wohlstand und Armut oder der noch längst nicht geschlossene Riß zwischen Ost und West. Doch Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene Wertschätzung. Dem Egoismus auf der individuellen Ebene entspricht die Neigung der gesellschaftlichen Gruppen, ihr partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen. Manche würden der regulativen Idee der Gerechtigkeit gern den Abschied geben. Sie glauben fälschlich, ein Ausgleich der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein. Für die Kirchen und Christen stellt dieser Befund eine große Herausforderung dar. Denn Solidarität und Gerechtigkeit gehören zum Herzstück jeder biblischen und christlichen Ethik.

(3) Diese Hinführung faßt die Hauptgedanken des Wortes zusammen. Sie tut das nicht in der Form einer Inhaltsangabe der einzelnen Kapitel, sondern durch eine systematische, in 10 Thesen entfaltete Darstellung:

1. Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen.

(4) Das Wort der Kirchen ist kein alternatives Sachverständigengutachten und kein weiterer Jahreswirtschaftsbericht. Die Kirchen sind nicht politische Partei. Sie streben keine politische Macht an, um ein bestimmtes Programm zu verwirklichen. Ihren Auftrag und ihre Kompetenz sehen sie auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor allem darin, für eine Wertorientierung einzutreten, die dem Wohlergehen aller dient. Sie betrachten es als ihre besondere Verpflichtung, dem Anliegen jener Gehör zu verschaffen, die im wirtschaftlichen und politischen Kalkül leicht vergessen werden, weil sie sich selbst nicht wirksam artikulieren können: der Armen, Benachteiligten und Machtlosen, auch der kommenden Generationen und der stummen Kreatur. Sie wollen auf diese Weise die Voraussetzungen für eine Politik schaffen, die sich an den Maßstäben der Solidarität und Gerechtigkeit orientiert.

(5) Der Konsultationsprozeß ist dafür ein vorzügliches Beispiel. In ihm vollzog sich ein intensiver Prozeß der Bewußtseinsbildung und des gemeinsamen Lernens. Das hat mit politischem Handeln viel mehr zu tun, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft der Politik werden in der Demokratie entscheidend durch Einstellungen und Verhaltensweisen aller Bürgerinnen und Bürger bestimmt. Der kirchliche Beitrag, wie etwa im Konsultationsprozeß, ist um so erfolgreicher, je mehr es ihm gelingt, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern und dadurch die politischen Handlungsspielräume zu erweitern, und umgekehrt um so erfolgloser, je weniger er in dieser Hinsicht auslöst und bewirkt. In einer Demokratie sind die Handlungsspielräume der Politik abhängig von den Einstellungen und Verhaltensweisen der Wählerinnen und Wähler. Aus der Verantwortung aber, die vorhandenen und die neu geschaffenen Handlungsspielräume mutig zu nutzen, kann die Politik nicht entlassen werden.

2. Die Qualität der sozialen Sicherung und das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander.

(6) Die Diskussionsgrundlage, mit der die Kirchen im November 1994 den Konsultationsprozeß angestoßen haben, wurde häufig als „Sozialpapier" bezeichnet. Das ist eine Verkürzung, die weder der Intention der Kirchen noch der gestellten Aufgabe gerecht wird. Um beides soll es gehen: um die soziale und die wirtschaftliche Lage. Denn die Qualität und finanzielle Stabilität der sozialen Sicherung und das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander. Verteilt werden kann nur das, was in einem bestimmten Zeitraum an Gütern und Dienstleistungen erbracht worden ist. Wird dieser Sachverhalt ignoriert und das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen dauerhaft durch einen überproportionalen Anstieg der vom Staat vorgenommenen Umverteilung überfordert, dann werden die finanziellen Fundamente der sozialen Sicherung unterspült.

(7) Der dynamische Charakter des marktwirtschaftlichen Systems, der dem Westen Deutschlands vor allem in den 50er und 60er Jahren zugute gekommen ist, wirkt sich gegenwärtig zugunsten anderer Anbieter in der globalisierten Wirtschaft aus. Daraus entsteht ein Anpassungsdruck auf die deutsche Volkswirtschaft, der sich auch im Abbau von Arbeitsplätzen niederschlägt. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze hält damit nicht Schritt. Die mit dieser Entwicklung verbundenen Gefahren dürfen nicht verniedlicht und kleingeredet werden. Es besteht dringlicher Handlungsbedarf.

(8) Die wirtschaftliche und soziale Situation in Deutschland darf aber auch nicht schlecht geredet werden. Die anhaltenden Exportüberschüsse belegen die nach wie vor hohe Leistungsfähigkeit großer Teile der deutschen Volkswirtschaft. Die Lohnstückkosten sind ein wesentlicher, freilich nicht der alleinige ökonomische Faktor. Tarifpartnerschaft und soziale Sicherung haben zu einem sozialen Frieden geführt, der sich als bedeutsamer Standortvorteil erwiesen hat.

3. Die Soziale Marktwirtschaft braucht eine strukturelle und moralische Erneuerung.

(9) Eine Wirtschafts- und Sozialordnung kommt nicht ohne rahmengebende rechtliche Normierungen und Institutionen aus. Appelle genügen nicht. Dieser Einsicht hat das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Rechnung getragen. Es wird in der Bundesrepublik Deutschland seit fünf Jahrzehnten erfolgreich praktiziert. Die Freiheit des Marktes und der soziale Ausgleich waren dabei die bei den tragenden Säulen. Die Kirchen sehen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weiter hin - auch für die andauernde, mit großen Härten verbundene wirtschaftliche Konsolidierung der neuen Bundesländer und für die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Einigung - den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke. Die Brücke braucht beide Pfeiler. Heute ist die Gefahr groß, daß die Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der sozialen Sicherung gestärkt werden soll. Nicht nur als Anwalt der Schwachen, auch als Anwalt der Vernunft warnen die Kirchen davor, den Pfeiler der sozialen Sicherung zu untergraben.

(10) Eine wesentliche Bedingung für den Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft war ihre beständige Verbesserung. Das setzt Reformfähigkeit vor aus. Heute dagegen sind Besitzstandswahrung und Strukturkonservatismus weit verbreitet, und zwar auf allen Seiten. Besitzstandswahrung darf nicht zu einem Kampfbegriff in der Diskussion um den Umbau des Sozialstaats werden. Auch die Verteidigung von Besitzständen an Subventionen und steuerlichen Vorteilen verhindert Reformen.

(11) Grundlegend muß die Erneuerung der wirtschaftlichen Ordnung auf ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft zielen. Wer die natürlichen Grundlagen des Lebens nicht bewahrt, zieht aller wirtschaftlichen Aktivität den Boden unter den Füßen weg. Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach nicht auf das eigene Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen weltweit verstanden werden. Darum müssen zur sozialen die ökologische und globale Verpflichtung hinzutreten. Die Erwartung, eine Marktwirtschaft ohne solche Verpflichtungen, eine gewisser maßen adjektivlose, reine Marktwirtschaft könne den Herausforderungen besser gerecht werden, ist ein Irrglaube.

(12) Die Strukturen allein reichen allerdings nicht. Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralisch viel anspruchsvoller, als im allgemeinen bewußt ist. Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur. Der individuelle Eigennutz, ein entscheidendes Strukturelement der Marktwirtschaft, kann verkommen zum zerstörerischen Egoismus. Die offenkundigste Folge sind Bestechung, Steuerhinterziehung oder der Mißbrauch von Subventionen und Sozialleistungen. Es ist eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben.

(13) Die Kirchen haben in der biblischen und christlichen Tradition einen reichen Schatz, der wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft kulturprägend wirksam gemacht werden kann. Sie stehen für eine Kultur des Erbarmens. Die Erfahrung des Erbarmens Gottes, von der Befreiung Israels aus Ägypten an, ist in der Bibel die Grundlage für das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Den Blick für das fremde Leid zu bewahren ist Bedingung aller Kultur. Erbarmen im Sinne der Bibel stellt dabei kein zufälliges, flüchtig-befristetes Gefühl dar. Die Armen sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren. Dieses Erbarmen drängt auf Gerechtigkeit.

4. In der sozialen Sicherung spricht nichts für einen Systemwechsel, Reformen aber sind unerläßlich.

(14) Die verschiedenen Säulen der sozialen Sicherung sind in Deutschland über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren als ein anpassungsfähiges System solidarischer Risikogemeinschaft aufgebaut worden. Dieses System verdient es, in seiner Grundidee und seinen Grundelementen erhalten und verteidigt zu werden. Nach wie vor ist Deutschland eines der reichsten Länder der Erde. Das Bruttosozialprodukt war noch nie so hoch wie zur Zeit. Die derzeit diskutierten Alternativ-Modelle stellen keine zukunftsweisenden Lösungen dar, die langwierige und risikobeladene Umstellungsverfahren rechtfertigen könnten. Die Hinweise auf die Verhältnisse in den USA verkennen die unterschiedliche soziokulturelle Tradition und werfen Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf.

(15) Im Rahmen des gegenwärtigen Systems sozialer Sicherung sind allerdings, um die finanzielle Stabilität zu gewährleisten, spürbare Änderungen nötig. Dazu gehören auch strukturelle Änderungen, durch die die einzelnen an Verhaltensweisen zu Lasten der Versichertengemeinschaft gehindert werden. Anspruchsberechtigung und Leistungsverpflichtung müssen spürbarer aneinander gekoppelt werden. Das nötigt auch zu Einschnitten bei den sozialen Leistungen. Sie werden nur im Streit zustande kommen. Dieser Streit hat - neben den nötigen gesetzgeberischen Entscheidungen - vor allem in der Auseinandersetzung der Tarifpartner seinen sinnvollen Ort.

(16) Eine beträchtliche Schwäche des gegenwärtigen Systems sozialer Sicherung liegt in der vorrangigen Bindung an das Erwerbseinkommen. Das hat schwerwiegende Auswirkungen vor allem auf die Situation von Frauen, und es steht der Orientierung an einem umfassenderen Arbeitsverständnis, das nicht auf Erwerbsarbeit fixiert ist, im Wege. Aber auch in dieser Hinsicht sind langsame Schritte der Anpassung erfolgversprechender als der große Wurf einer radikalen Umstellung.

(17) Erhebliche Probleme ergeben sich aus dem Altersaufbau der Bevölkerung. Deutschland gehört zu den Ländern Europas mit der geringsten Geburtenziffer. Unter den jüngeren Generationen hat die Kinderlosigkeit stark zugenommen, die Gesellschaft polarisiert sich in private Lebensformen mit und ohne Kinder und gefährdet damit ihre Zukunftsfähigkeit.

(18) Quantitative und qualitative Veränderungen im Gefüge des Sozialstaats sind sorgfältig zu unterscheiden. Auch in den 60er und 70er Jahren verdienten die Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland den Namen Sozialstaat. Es ist nicht ausgemacht, daß unter veränderten Bedingungen alle Errungenschaften der Vergangenheit in ungeschmälerter Höhe festgehalten werden können.

5. Die vordringlichste Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist in den nächsten Jahren der Abbau der Massenarbeitslosigkeit.

(19) Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist ein gefährlicher Sprengstoff: im Leben der betroffenen Menschen und Familien, für die besonders belasteten Regionen, vor allem weite Teile Ostdeutschlands, für den sozialen Frieden. Ohne Überwindung der Massenarbeitslosigkeit gibt es auch keine zuverlässige Konsolidierung des Sozialstaats. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit führt zu Einnahmeausfällen bei der Sozialversicherung und verursacht hohe Kosten vor allem im Rahmen der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe. Insofern ist nicht der Sozialstaat zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit.

(20) Diese Einsicht darf jedoch nicht davon abhalten, die unter den Bedingungen fortdauernder Arbeitslosigkeit möglichen Schritte zu einer Entlastung und Stabilisierung des Systems der sozialen Sicherung zu tun. Dazu gehört die schrittweise Herausnahme versicherungsfremder Leistungen aus der Sozialversicherung. Diese Leistungen können zwar nicht alle wegfallen und müssen über Steuern finanziert werden. Aber es geht bei einer solchen Verschiebung darum, die Lohnnebenkosten spürbar zu senken, alle leistungsfähigen Bürgerinnen und Bürger an den Aufwendungen für die versicherungsfremden Leistungen zu beteiligen und nicht länger einseitig die Arbeitsplätze zu belasten.

(21) Energische und dauerhafte Anstrengungen zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sind in den nächsten Jahren eine vorrangige Gemeinschaftsaufgabe. Sie dienen auch einer gleichberechtigten Teilnahme der Frauen am Erwerbsleben. Bund, Länder und Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaften sowie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen müssen hier zusammenwirken. Patentrezepte gibt es nicht. Es kommt darauf an, verschiedene Wege zu nutzen. Priorität hat nach wie vor die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Dem dient es, wenn die Arbeitskosten gesenkt werden. Hier tragen die Tarifpartner eine hohe Verantwortung. Mehr wirtschaftliches Wachstum allein wird aber auf absehbare Zeit nicht eine hinreichende Zahl an Arbeitsplätzen schaffen. Deshalb müssen ergänzende Mittel hinzukommen: vor allem die Teilung von Erwerbsarbeit, wie sie von vielen Frauen, aber auch von Männern zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewünscht wird, die Umwandlung jedenfalls eines Teils der geleisteten Überstunden in reguläre Voll- und Teilzeitarbeitsplätze und das Instrument der öffentlich geförderten Arbeit, mit dem Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert werden kann.

6. Der Sozialstaat dient dem sozialen Ausgleich. Darum belastet er die Stärkeren zugunsten der Schwächeren.

(22) Der soziale Ausgleich ist ein integraler Bestandteil des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft. Wer das Prinzip einer begrenzten Korrektur der Einkommensverteilung in Frage stellt, stellt den Sozialstaat in Frage. Nur ein finanziell leistungsfähiger Staat kann als Sozialstaat funktionieren. Er braucht die Mittel, um der Verpflichtung zum sozialen Ausgleich nachkommen zu können. Bei den sinnvollen Schritten zur „Verschlankung" des Staates darf er nicht „ausgehungert" werden und am Ende so sehr „abmagern", daß er seine Aufgabe als Sozialstaat nur noch unzureichend erfüllen kann.

(23) Der zutreffende Grundsatz, daß Leistung sich im wirtschaftlichen Bereich lohnen muß, darf nicht dazu führen, daß die Bezieher hoher Einkommen einseitig von ihren Beiträgen zum sozialen Ausgleich entlastet werden. Leistungsfähigkeit für die solidarische Finanzierung des sozialen Ausgleichs bestimmt sich im übrigen nicht nur nach dem laufenden Einkommen, sondern auch nach dem Vermögen. Wird im Blick auf das Vermögen die Substanz- und Besitzstandswahrung für unantastbar erklärt, dann ist die Sozialpflichtigkeit des Eigentums in einer wichtigen Beziehung drastisch eingeschränkt oder sogar aufgehoben. Mehr und mehr breitet sich das Argument aus, viele Bürgerinnen und Bürger fänden die Abgabenbelastung zu hoch und darum müsse sie gesenkt werden. Oder: Wegen der hohen steuerlichen Belastung breite sich Schwarzarbeit aus, und darum müsse die steuerliche Belastung reduziert werden. Solche Argumente und Stimmungen müssen von der Politik ernst genommen werden, doch dürfen sie nicht vorrangiger Bezugspunkt von Entscheidungen werden. Vielmehr muß das Gemeinwohl Vorrang haben. Es gebietet angesichts der Unerträglichkeit der Massenarbeitslosigkeit, die Möglichkeiten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu verbessern. In dem Maße, in dem sie dazu beiträgt, ist die Senkung der Steuer- und Abgabenlasten richtig und notwendig.

(24) Nicht nur Armut, auch Reichtum muß ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird. Ohnehin tendiert die wirtschaftliche Entwicklung dazu, den Anteil der Kapitaleinkommen gegenüber dem Anteil der Lohneinkommen zu vergrößern. Um so wichtiger wird das von den Kirchen seit langem vertretene Postulat einer breiteren Vermögensstreuung. Dafür wurde eine Reihe von Investivlohnmodellen entwickelt.

(25) Sozialer Ausgleich und soziale Balance sind auch dann gefordert, wenn die Lasten neu verteilt werden. Veränderungen und Anpassungen des Sozialstaats dürfen nicht nur und auch nicht in erster Linie den Geringerverdienenden, den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern zugemutet werden. Das Gerechtigkeitsempfinden wird empfindlich gestört, wenn nicht zur gleichen Zeit bei denen Abstriche gemacht werden, die sie ohne Not verkraften können, und entschiedene Anstrengungen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht unternommen werden.

7. Der Sozialstaat muß so weiterentwickelt werden, daß die staatlich gewährleistete Versorgung durch mehr Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten gestützt wird. Er bedarf einer ihn tragenden und ergänzenden Sozialkultur.

(26) Der Sozialstaat bedarf gerade angesichts der Finanzierungsprobleme der Weiterentwicklung: Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten müssen gestärkt werden. Die traditionelle Sozialkultur befindet sich im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung in einem starken Wandel und hat sich an vielen Stellen aufgelöst. Ansätze zu einer neuen Sozialkultur zeichnen sich ab. Sie müssen gefördert werden. Darum spielen die Familien und neue Formen und Chancen der Solidarität, etwa in den Netzwerken assoziativer Selbsthilfe, in den Bürgerbewegungen und Ehrenämtern oder in der wechselseitigen Nachbarschaftshilfe, im Wort der Kirchen eine hervorgehobene Rolle. Eine neue Sozialkultur kann und soll nicht das staatliche System sozialer Sicherung ersetzen, aber sie kann Leistungen hervorbringen, die man bisher allzu schnell vom Staat erwartete. Eine entwickelte Sozialkultur trägt auch dazu bei, Vereinsamung und soziale Kälte zu überwinden, und schafft so Voraussetzungen für eine menschenwürdigere Gesellschaft.

(27) Um eben diese Sachverhalte geht es im Begriff der Subsidiarität. Treffend ist Subsidiarität mit Vorfahrt für Eigenverantwortung übersetzt worden. Dazu zählt auch mehr betrieblicher Gestaltungsspielraum bei der Arbeitszeitregelung und beim Lohnabschluß. Es darf nicht zu viel verbindlich für alle vereinbart werden. Die unteren Ebenen sind den betroffenen Menschen näher und können zu sachgerechteren und menschengerechteren Lösungen kommen. Subsidiarität ist nach seinem ursprünglichen Sinn ein Prinzip, das die Einzelperson und die kleinen und mittleren Einheiten davor schützt, daß ihnen entzogen wird, was sie aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten können. Ein anderer Akzent wird hingegen dort gesetzt, wo unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip Aufgaben nach unten abgegeben und dann ehrenamtliche Leistungen eingefordert und Risiken sowie Kosten auf den einzelnen übertragen werden. Bei der Subsidiarität geht es darum, die Einzelpersonen und die untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen zu schützen und zu unterstützen, nicht jedoch, ihnen wachsende Risiken zuzuschieben. Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und Sozialstaat gehören insofern zusammen. Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt nicht: den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen.

8. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse im Westen und im Osten Deutschlands wird noch für lange Zeit spürbar bleiben. Das Geschenk der Einheit muß wirtschaftlich und sozial mit Leben erfüllt werden.

(28) Die wirtschaftliche Lage im Osten Deutschlands hat sich nach dem tiefen Einbruch von 1990/91 bemerkenswert verbessert. Dennoch ist die unterschiedliche ökonomische Situation in den neuen Bundesländern gegenüber der Situation in den alten Bundesländern alltäglich erfahrbar. Den Menschen im Osten Deutschlands, insbesondere vielen Frauen, die die Hauptlast der Beschäftigungskrise zu tragen haben, sind durch die Vereinigung schmerzliche Anpassungsprozesse abverlangt worden. Sie halten weiter an.

(29) Für Westdeutsche ist es eine jahrzehntelange Erfahrung: Freiheit hat ihren Preis; sie kann mißbraucht werden. Für viele Ostdeutsche mischte sich in die Freude über die neugewonnene Freiheit das Erschrecken über die Auflösung sozialer Bindungen und die Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung eigensüchtiger Interessen. Der Preis für den Auszug aus der beherrschenden, aber auch betreuenden Diktatur der DDR war insbesondere ein Verlust an Sicherheitsgefühl und staatlich geplanter Fürsorge.

(30) Die ökonomischen Leistungen, die den Westdeutschen für den Aufbau der wirtschaftlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern für längere Zeit abverlangt werden, sind unübersehbar. Es handelt sich um einen Teil der Kriegsfolgelast Deutschlands. Die Opfer der Solidarität, die im übrigen auch von den Menschen in den neuen Bundesländern erbracht werden, sind vollauf gerechtfertigt. Die Bereitschaft, die erforderlichen Lasten zu tragen, ist auch Grund zum Dank. Stimmen, die auf einen raschen Abbau dieser Leistungen drängen, sollte nicht nachgegeben werden.

(31) Die Unterschiede der realen Lebensverhältnisse sind eine Folge der getrennten Entwicklung in unterschiedlichen Systemen. Ihre Überwindung gehört zu den Aufgaben der erneuerten Einheit der Deutschen. Sollte es in dem reichen Deutschland nicht gelingen, das West-Ost-Gefälle auszugleichen und die Lebensverhältnisse einander anzunähern - wie sollte man noch die Hoffnung bewahren, daß im Blick auf die weit auseinanderklaffenden Lebensverhältnisse in Europa und darüber hinaus ein größeres Maß an sozialer Gerechtigkeit geschaffen werden kann? Dabei geht es nicht einfach darum, den Osten im Produktions-, Konsum- und Infrastrukturniveau auf „Weststandard" zu bringen. Um den Erfordernissen einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu entsprechen, müssen sich im Prozeß des weiteren Zusammenwachsens beide Teile Deutschlands verändern.

9. Die Menschen teilen die Welt mit den anderen Geschöpfen Gottes. Deutschland lebt in der Welt zusammen mit anderen Ländern. Solidarität und Gerechtigkeit sind unteilbar.

(32) Grundbedingung für eine zukunftsfähige Entwicklung ist die Erhaltung der natürlichen Grundlagen des Lebens. Kein Land der Erde wird auf lange Sicht dadurch reicher, daß es diese Grundlagen zerstört. Als Verteilungsregel sollte daher gelten: Recht und Billigkeit der Ressourcennutzung müssen sowohl unter der jetzt lebenden Weltbevölkerung als auch im Ablauf der Generationen gewährleistet sein. Um die Tragekapazität der ökologischen Systeme nicht zu überschreiten, können der Natur nicht unbegrenzt Rohstoffe entnommen und nur so viele Rest- und Schadstoffe in sie eingebracht werden, wie sie ohne Schaden aufzunehmen vermag. Diese Kriterien der Nachhaltigkeit nötigen dazu, den ökologischen Strukturwandel voranzubringen. Er setzt Änderungen des Lebensstils voraus, und er zieht solche Änderungen nach sich. Die Kirchen tragen dazu bei, eine Politik des ökologischen Strukturwandels möglich zu machen, wenn sie den biblischen Gedanken der Umkehr auf Änderungen des Lebensstils hin auslegen und an der Gleichsetzung von „gut leben" und „viel haben" Kritik üben.

(33) Die Kirche hat eine Botschaft an alle Menschen. Für sie kann der Horizont von Solidarität und Gerechtigkeit über Deutschland und Europa hinaus nur ein weltweiter sein. Das ist von besonderer Aktualität zu einem Zeitpunkt, an dem die Weltwirtschaft von Globalisierungsschüben erfaßt ist. Diese Globalisierung ereignet sich jedoch nicht wie eine Naturgewalt, sondern muß im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestaltet werden. Sie kann zahlreichen wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern neue Chancen geben. Die Chancen bestehen freilich nur so lange, wie die reichen Länder bereit sind, ihre Märkte offenzuhalten und weiter zu öffnen. Das verlangt den Menschen in Deutschland Umstellungen ab und ist für manche Wirtschaftszweige mit Einbußen verbunden. Die Kirchen treten in dieser Situation dafür ein, auch eine solche Entwicklung zu bejahen und zu fördern. Man kann nicht zuerst nach Chancen wirtschaftlicher Entwicklung für die ärmeren Länder rufen, aber dann zurückzucken, wenn es einen selbst etwas kostet. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der ärmeren Länder zu fördern, ist zudem nicht nur ein Gebot weltweiter Solidarität und Gerechtigkeit, es ist auch ein Gebot des Selbstinteresses: Es ist unerläßlich, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Es ist Teil einer vorausschauenden Friedenspolitik.

10. Das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland ist kein letztes Wort.

(34) Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz verantworten das vorgelegte Wort. Sie haben in der Vorbereitung die Beiträge des Konsultationsprozesses sorgfältig ausgewertet, auf unterschiedliche Stimmen aufmerksam gehört und die dabei geltend gemachten Argumente abgewogen. Das Wort, das daraus entstanden ist, kann der Natur der Sache nach keine abschließende Stellungnahme sein. Rat der EKD und Deutsche Bischofskonferenz laden zur kritischen Auseinandersetzung ein. Das Wort ist Teil in dem weitergehenden öffentlichen Gespräch, welchen vorrangigen Zielen das wirtschaftliche und soziale Handeln verpflichtet sein muß und auf welchen Wegen diese Ziele am besten zu erreichen sind.

 

1. Der Konsultationsprozeß

1.1 Zeit des Wandels und der Erneuerung

(35) An der Schwelle eines neuen Jahrtausends befinden sich nicht nur Deutschland und Europa, sondern alle Industrie- und Entwicklungsländer in einer Phase ebenso rascher wie tiefgreifender Veränderungen und Umbrüche. Durch die deutsche Einigung, den europäischen Integrationsprozeß, das Ende des mit der Nachkriegsordnung verbundenen Ost-West-Konflikts, das Tempo des technischen Fortschritts und den Ausbau der modernen Informations-, Kommunikations- und Verkehrstechnologien ergeben sich Entwicklungen, deren Wirkungen im einzelnen noch nicht absehbar sind. Die internationalen Verflechtungen nehmen zu, die weltweite Integration der Märkte ebenso wie der weltwirtschaftliche Austausch von Gütern, Kapital und Dienstleistungen schreiten voran, der Wettbewerb verschärft sich. Hinzu kommen demographische und soziale Verschiebungen, die mit den weltweiten Wanderungsbewegungen, der Alterung der Industriegesellschaften, der Individualisierung der Lebensformen und der Differenzierung der Lebensstile einhergehen. All das nötigt zu kontinuierlichen und zum Teil einschneidenden Anpassungsprozessen.

(36) Die vielfältigen Veränderungen und Umbrüche wirken sich in unterschiedlicher Form und Intensität auf nahezu alle Lebensbereiche aus. Sie sind verbunden mit Zukunftschancen, haben zugleich aber auch zu Problemen und Erschwernissen für viele Menschen geführt. Sie machen es nötig, bisherige Gewohnheiten, Überzeugungen und scheinbare Selbstverständlichkeiten auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen, und dies auf deutscher, europäischer und globaler Ebene. Das vereinigte, aber noch längst nicht zusammengewachsene Deutschland steht vor der Frage, wie bei der notwendigen Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost die sozial und ökologisch verpflichtete marktwirtschaftliche Ordnung weiterentwickelt werden kann, welche Reformen nötig sind, um die anhaltende Massenarbeitslosigkeit zu überwinden und das System der sozialstaatlichen Sicherung zu bewahren, und inwieweit ein grundsätzliches Umdenken und Umsteuern erforderlich ist, um die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Auf europäischer Ebene stellt sich die Aufgabe, die wirtschaftliche Integration durch die Währungsunion, eine gemeinsame Innen- und Rechtspolitik sowie Außen- und Sicherheitspolitik zu vertiefen und das Einigungswerk mit einer politischen Union zu vollenden. Gleichzeitig müssen sich Idee und Praxis der Friedenssicherung durch politische Integration, die in den vergangenen 40 Jahren in Westeuropa entwickelt wurden, auch in Mittel- und Osteuropa bewähren. Dies schließt die Bereitschaft ein, mittel- und osteuropäische Länder bei den schwierigen Transformationsprozessen in eine freiheitliche Demokratie und marktwirtschaftliche Ordnung nach Kräften zu unterstützen. Auf der globalen Ebene geht es schließlich darum, in gemeinsamer Verantwortung und Partnerschaft eine solidarische, gerechte und darum tragfähige Ordnung zu schaffen, die geeignet ist, die im Gang befindlichen und absehbaren Veränderungen zum Nutzen aller zu gestalten und eine nachhaltige, d. h. zukunftsfähige Entwicklung nicht zuletzt der armen Länder zu ermöglichen.

 

1.2 Anlage und Verlauf des Konsultationsprozesses

(37) Die Kirchen sehen es als ihre Aufgabe an, Mitverantwortung für eine menschengerechte und sachgerechte Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten wahrzunehmen und dabei besonders für die Belange der Armen, der Schwachen und Benachteiligten einzutreten. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz haben sich darum in der gegenwärtigen Umbruchsituation entschlossen, ein gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage vorzubereiten und dazu einen breiten Diskussionsprozeß über die Grundbedingungen des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders anzustoßen. Sie sehen darin auch einen Dienst für die Gesellschaft.

(38) Dieser Konsultationsprozeß wurde am 22. November 1994 mit der Veröffentlichung einer Diskussionsgrundlage eingeleitet 1. Damit verband sich die Einladung zum Dialog: einem Dialog sowohl innerhalb der Kirchen als auch mit Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen, um Rat der EKD und Deutsche Bischofskonferenz bei der Vorbereitung des von ihnen zu verantwortenden Wortes zu beraten und im Austausch von Erfahrungen und Argumenten den gesellschaftlichen Grundkonsens zu verbreitern. Über die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz hinaus haben weitere Kirchen am Konsultationsprozeß mitgewirkt. Die Diskussionsgrundlage wurde in einer Auflage von über 400.000 Exemplaren verbreitet. In den Kirchen selbst, in Parteien, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften, vor allem auch zwischen kirchlichen und gesellschaftlichen Vertreterinnen und Vertretern fand eine große Zahl von Begegnungen und Veranstaltungen statt. Auf einem zentralen Wissenschaftlichen Forum am 12. September 1995 wurde der Rat ausgewählter Fachleute eingeholt 2. Abgeschlossen wurde der Konsultationsprozeß in einer zusammenfassenden Veranstaltung am 9./10. Februar 1996 in Berlin 3. Im Verlauf des Konsultationsprozesses wurden insgesamt rund 2.500 Stellungnahmen mit einem Umfang von über 25.000 Seiten eingereicht 4.

(39) Die Diskussionsgrundlage hatte den Charakter eines Impulspapiers, das den Konsultationsprozeß in Gang setzen und inhaltlich umreißen sollte. Dem ist es voll gerecht geworden. Von Anfang an war klar ausgesprochen worden: „Die Diskussionsgrundlage will und kann nicht das vorgesehene gemeinsame Wort vorwegnehmen. Dieses soll vielmehr erst nach Abschluß des Konsultationsprozesses und unter Berücksichtigung seiner Ergebnisse in der Verantwortung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz entstehen." 5

Im Laufe des Jahres 1996 haben ein Beraterkreis und eine Redaktionsgruppe, die von den beiden kirchlichen Leitungsgremien berufen worden waren, wichtige Vorarbeiten geleistet für die Vorbereitung, Beratung und schließlich die Verabschiedung des gemeinsamen Wortes durch den Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz. 6

 

1.3 Ergebnisse und Wirkungen des Konsultationsprozesses

(40) Mit dem Konsultationsprozeß haben die Kirchen Neuland betreten. Er war für alle Beteiligten ein Lernprozeß. Das Experiment ist insgesamt gelungen. Das Verfahren des Konsultationsprozesses bot vorzügliche Möglichkeiten, dem berechtigten Interesse an einer breiteren innerkirchlichen Beteiligung an der Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung der Kirchen Rechnung zu tragen. Zugleich verstärkte dieses Verfahren den Dialog von Kirche und Gesellschaft auf allen Ebenen.

(41) Der Konsultationsprozeß hat zahlreiche wichtige inhaltliche Beiträge und Einsichten gebracht. Er hat erkennen lassen, was den meisten in der gegenwärtigen Lage unter den Nägeln brennt und welche vorrangigen Handlungsziele und -möglichkeiten sie sehen. Unter anderem sind hier zu nennen:

  • Gegenüber der Massenarbeitslosigkeit darf es keine Resignation geben. Massenarbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Verhängnis. Es gibt Möglichkeiten, sie abzubauen.
  • Eine allgemeine soziale Sicherung, die allen Bürgerinnen und Bürgern eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die gerechte Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern garantiert, ist für die Gesellschaft konstitutiv. Die Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland bieten die Voraussetzung, einer veränderten Lage gerecht und ihr angepaßt zu werden, wie dies auch in der Vergangenheit in vergleichbarer Situation möglich war.
  • Nur was die Lage der Schwächeren bessert, hat Bestand. Bei allen grundlegenden Entscheidungen müssen die Folgen für die Lebenssituation der Armen, Schwachen und Benachteiligten bedacht werden. Diese haben ein Anrecht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an den gesellschaftlichen Chancen sowie auf Lebensbedingungen, die ihre Würde achten und schützen.
  • Es muß intensiver über die Lebenssituation der Familie, der Frauen, der Kinder, der Jugendlichen und über die Wahrung ihrer Belange nachgedacht werden.
  • Die innere Einheit in Deutschland ist mehr als einfach nur eine Angleichung der Lebensverhältnisse des Ostens an die des Westens. Beide Teile müssen sich im Prozeß des Zusammenwachsens deutlich umorientieren.

Der Konsultationsprozeß hat aber, gemessen an dem quantitativen Umfang, der den einzelnen Themen in den Stellungnahmen gewidmet ist, auch erkennen lassen, daß die großen Zukunftsaufgaben - die Bewahrung der natürlichen Grundlagen des Lebens, die Veränderung des vorherrschenden Wohlstandsmodells, die europäische Einigung und die Herstellung von mehr internationaler Gerechtigkeit - gegenüber den bedrängenden sozialen Problemen vor der eigenen Haustür in den Hintergrund treten. Alle diese Befunde mußten bei der Vorbereitung des hier vorgelegten Wortes sorgfältig bedacht und gewürdigt werden, ohne daß damit schon über die Schwerpunkte und inhaltlichen Akzente des Wortes entschieden war. Der Konsultationsprozeß umfaßt die ganze Bandbreite der in Kirche und Gesellschaft vertretenen Auffassungen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage. Er kann von seiner Natur und Anlage her die inhaltlichen Entscheidungen über das Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht vorwegnehmen. Worin liegt dann aber sein Sinn? Fünf Aspekte sind hier vor allem zu nennen:

(42) Erstens: Der Konsultationsprozeß hat die inhaltliche Vorbereitung des Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in hohem Maße bereichert. Rat der EKD und Deutsche Bischofskonferenz können und wollen sich zu wirtschaftlichen und sozialen Fragen nicht äußern, ohne sich eingehend beraten zu lassen. Dies geschieht bisher weitgehend so, daß Kommissionen aus Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen ihnen zuarbeiten. Diese bewährte Form der Erarbeitung kirchlicher Äußerungen wird auch in Zukunft beibehalten werden und bestimmend bleiben. Das Verfahren des Konsultationsprozesses verbreitert und vertieft die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Maßgebend kann und darf nicht nur der Rat von Wissenschaftlern und Experten sein, sondern es hat eine eigenständige Bedeutung, den weiten Kreis der Akteure und Betroffenen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu hören. Der Vergleich zwischen der Diskussionsgrundlage und dem hier vorgelegten Wort zeigt, welche Einsichten und Anregungen der Konsultationsprozeß erbracht hat. Von besonderem Gewicht ist die Einführung eines eigenen Abschnitts, der sich den Herausforderungen für die Kirchen selbst widmet. Die Kirchen - so hatten viele Beiträge im Konsultationsprozeß gemahnt - können sich nicht zu Maßstäben für das wirtschaftliche und soziale Handeln äußern, ohne ihr eigenes Handeln auf diesen Gebieten an denselben Maßstäben zu messen. Insbesondere von Frauen ist auf den Mangel aufmerksam gemacht worden, daß die Diskussionsgrundlage weithin die besondere Situation der Frauen unberücksichtigt gelassen habe. Dem war Rechnung zu tragen.

(43) Zweitens: Der Konsultationsprozeß kann den politischen Handlungsspielraum erweitern. In einer Demokratie sind die Handlungsspielräume der Politik abhängig von Einstellungen und Verhaltensweisen der Wählerinnen und Wähler. Der Konsultationsprozeß ist dafür nicht ohne Bedeutung. Er ist ein Beitrag zu Bewußtseinsbildung und sozialem Lernen. Wenn - wie es im Konsultationsprozeß geschehen ist - Menschen nicht mit einem fertigen Ergebnis konfrontiert werden, das sie nur noch akzeptieren oder ablehnen können, sondern selbst in die Überlegungen und Abwägungen einbezogen sind, geschehen Bewußtseinsbildung und Lernen intensiver. Solche Prozesse haben mit dem politischen Handeln viel mehr zu tun, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Die Politikerschelte, die angesichts von Mißständen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens üblich ist, greift nämlich zu kurz. Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft der Politik werden in der Demokratie entscheidend durch Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger bestimmt. Der Konsultationsprozeß ist deshalb um so erfolgreicher, je mehr es ihm gelingt, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern und dadurch die politischen Spielräume zu erweitern - und umgekehrt um so folgenloser, je weniger ihm dies gelingt.

(44) Drittens: Der Konsultationsprozeß bietet einen Rahmen, in dem der gesellschaftliche Grundkonsens gebildet, gestärkt und verbreitert wird. Die mit der Veröffentlichung der Diskussionsgrundlage verbundene Einladung zu einem öffentlichen Dialog ist auf eine ungemein breite Zustimmung gestoßen. Die Diskussionsgrundlage war Impuls oder Plattform für zahlreiche Gespräche: zwischen den Kirchen und den Parteien und gesellschaftlichen Gruppen, innerhalb der Kirchen und der gesellschaftlichen Gruppen, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, auf der örtlichen Ebene wie auf der Ebene von Leitungsgremien. Damit diente der Konsultationsprozeß der Bildung, Stärkung und Verbreiterung des gesellschaftlichen Grundkonsenses. Polemik gegen die Konsenskultur ist kurzsichtig. Konsens meint keineswegs die Abwesenheit oder den Ausschluß von Konflikten. Aber Konflikte lassen sich gemeinwohlverträglich eher austragen, Kompromisse als Ausgleich zwischen unterschiedlich oder gegensätzlich bleibenden Interessen lassen sich leichter erreichen, wenn die Konfliktpartner auf dem Boden eines gemeinsamen Grundkonsenses stehen.

(45) Viertens: Der Konsultationsprozeß hat auf der persönlichen und lokalen Ebene praktische Veränderungen bewirkt und die Netzwerke solidarischer Hilfe gestärkt. Der Dialog hat bei vielen Beteiligten kleine und große Veränderungen bewirkt, Lernprozesse in Gang gesetzt und scheinbar unverrückbare Fronten bewegt. Die Verknüpfungen der verschiedenen Probleme wurden entdeckt, größere Zusammenhänge erkannt. Vorurteile wurden in Frage gestellt, Argumente, die bisher in den Wind geschlagen worden waren, wurden aufmerksam gehört. Im Verlauf des Konsultationsprozesses ist beispielsweise ein hohes Maß an Solidarität und Anteilnahme mit dem Schicksal von Arbeitslosen zutage getreten. Es haben sich Initiativen und Gruppen gebildet, die einen wirksamen Beitrag der praktischen Unterstützung und Solidarität leisten wollen, und es ist eine Vielzahl konkreter, auch unkonventioneller Maßnahmen der Hilfe und Unterstützung bis hin zu persönlichen materiellen Verzichtsleistungen in Gang gekommen.

(46) Fünftens: Die Kirchen haben im Konsultationsprozeß gelernt. Es gibt innerhalb der Kirchen zwar eine hohe Sensibilität für ihren Dienst an der Gesellschaft und eine Fülle beeindruckender Aktivitäten, aber auch nicht wenige Gemeinden und Christen, die in besorgniserregender Weise selbstbezogen sind und den Vorgängen in der Gesellschaft zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Daß das Eintreten für Solidarität und Gerechtigkeit unabdingbar zur Bezeugung des Evangeliums gehört und im Gottesdienst nicht nur der Choral, sondern auch der Schrei der Armen seinen Platz haben muß, daß „Mystik", also Gottesbegegnung, und „Politik", also der Dienst an der Gesellschaft, für Christen nicht zu trennen sind - das alles ist im Konsultationsprozeß nachdrücklich hervorgetreten. Eine wertvolle Erfahrung war nicht zuletzt die erneute Bestätigung, daß ein gemeinsames sozialethisches Sprechen und Handeln der Kirchen möglich, aber auch notwendig ist.

(47) Insgesamt wird deutlich: Der Konsultationsprozeß darf nicht allein an dem Wort gemessen werden, das jetzt vorgelegt wird. Im Vorwort zur Diskussionsgrundlage stehen die Sätze: „In gewisser Weise gilt: Der Weg ist das Ziel. Schon das gemeinsame engagierte Gespräch, das ernsthafte gemeinsame Nachdenken, die vielen Versuche, Lösungen zu finden, machen diesen Konsultationsprozeß wertvoll und geben ihm eine eigenständige Bedeutung neben dem endgültigen Ergebnis." Damit war niemals gemeint, der Weg könne und dürfe das Ziel eines gemeinsamen Wortes überflüssig machen. Aber auch und gerade im Rückblick bleibt es dabei: Die im Laufe des Konsultationsprozesses erzielten Ergebnisse, Wirkungen und Nebenwirkungen haben eine eigenständige Bedeutung neben dem von Rat der EKD und Deutscher Bischofskonferenz verantworteten gemeinsamen Wort.

 

2. Gesellschaft im Umbruch

(48) Die Entwicklung in den meisten westeuropäischen Ländern war nach dem Zweiten Weltkrieg durch den politischen Willen geprägt, den wirtschaftlichen Fortschritt mit einem sozialen Ausgleich zu verbinden. Diese sozialstaatliche Tradition, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht, fand in der Bundesrepublik Deutschland ihre Ausprägung im Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Inzwischen steht Deutschland mit vielen anderen Ländern vor neuen, zum Teil weltweiten Herausforderungen: Rationalisierungsprozesse, der europäische Integrationsprozeß und vor allem die Internationalisierung der Güter- und Kapitalmärkte gehen mit einem einschneidenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel einher und wirken sich nicht zuletzt nachhaltig auf den Arbeitsmarkt aus. Die ökologischen Grenzen der wirtschaftlichen Entwicklung fordern Veränderungen, die nicht mehr länger aufgeschoben werden können. Die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit und die mit ihr verbundenen Probleme des Sozialstaates gefährden den solidarischen Zusammenhalt und bedrohen den sozialen Frieden.

 

2.1 Lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit

(49) In Deutschland und in den anderen Mitgliedsstaaten der EU stellt die anhaltende Massenarbeitslosigkeit die drängendste politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung dar. Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weder für die betroffenen Menschen noch für den sozialen Rechtsstaat hinnehmbar. Auch im Konsultationsprozeß gehörte die Arbeitslosigkeit zu den Themenbereichen, die in den Eingaben die größte Beachtung fanden. In den Stellungnahmen werden die Parteien und Gebietskörperschaften, die Tarifpartner und die Verantwortlichen der Finanzpolitik sowie alle Träger beschäftigungspolitischer Maßnahmen nachdrücklich aufgefordert, ihren Beitrag zu einem nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten.

 

2.1.1 Belastungen durch Arbeitslosigkeit

(50) Bereits vor mehr als 20 Jahren überschritt die Zahl der in Westdeutschland registrierten Arbeitslosen erstmals wieder seit Anfang der 50er Jahre die Millionengrenze. Seitdem hat sich die Arbeitslosigkeit strukturell verfestigt und die Anzahl derer, die selbst zu Zeiten konjunktureller Belebung keine Stelle finden, ist stetig gewachsen. In West- und Ostdeutschland zusammen waren im Januar 1997 4,6 Millionen Frauen und Männer als arbeitslos gemeldet; in den Ländern der EU waren es Ende Dezember 1996 etwa 18,1 Millionen. Nicht eingerechnet sind dabei die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die an Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen, in Kurzarbeit oder im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt sind, im vorgezogenen Ruhestand leben oder sich resignierend zurückgezogen haben. Eine besondere beschäftigungspolitische Herausforderung stellt die Jugendarbeitslosigkeit dar. Eine wachsende Zahl von Jugendlichen, insbesondere von jungen Frauen, läuft Gefahr, niemals in das Beschäftigungssystem integriert zu werden.

(51) Die westdeutsche Gesellschaft ist wohlhabend, ihre Wirtschaft gehört zu den erfolgreichsten der Welt; dennoch weist sie seit Jahrzehnten eine steigende Arbeitslosigkeit auf. Die Vorstellungen über Erwerbsarbeit sind zwar immer noch weitgehend an dem herkömmlichen Leitbild industrieller Arbeit orientiert. Dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse im industriellen Bereich verlieren gegenüber dem Dienstleistungssektor jedoch an Gewicht und Bedeutung. Zugleich nehmen die sogenannte geringfügige Beschäftigung und die Scheinselbständigkeit zu. Diese Umbrüche in den Beschäftigungsverhältnissen rühren an Grundstrukturen einer Gesellschaft, in der die Erwerbsarbeit für das geregelte Einkommen, die soziale Integration und die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung zentral ist.

(52) Obwohl die Arbeitslosigkeit ein gesamtwirtschaftliches Problem darstellt, ist das Vorurteil weit verbreitet, sie beruhe auf individuellem Versagen. Viele Arbeitslose beziehen solche Schuldzuweisungen auf sich, ziehen sich aus Scham zurück und fühlen sich vielfach ausgegrenzt. Sie vermissen die Chance, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, Kontakte zu pflegen, sich weiter zu qualifizieren und am gesellschaftlichen Leben verantwortlich zu beteiligen.

(53) Die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit verschärft die Auswahl- und Verdrängungsprozesse des Arbeitsmarktes: Sind Personengruppen bestimmten Leistungsanforderungen nicht gewachsen, so finden sie, wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, nur noch sehr schwer eine Anstellung. So fühlen sich Hunderttausende Langzeitarbeitslose nicht mehr gefragt. Arbeitslose, die längere Zeit keine Arbeit finden, werden schließlich in vielen Fällen unfähig, Arbeit zu suchen, und werden zu Menschen ohne Erwartungen. Verbitterung und Resignation zerstören das Vertrauen in die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Perspektivlosigkeit und Angst vor dem sozialen Abstieg sind ein Nährboden für Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit.

(54) Seit den 80er Jahren konzentriert sich die Langzeitarbeitslosigkeit zunehmend auf die Gruppe der Älteren. Etwa zwei Drittel der registrierten Langzeitarbeitslosen sind über 45 Jahre alt. In einer besonders schwierigen Situation sind alleinerziehende Frauen. Häufig haben sie aufgrund ihrer besonders belastenden Lebenssituation keine Chance, einen Arbeitsplatz zu bekommen und damit ein eigenes Einkommen zu erzielen. Sie werden von der Sozialhilfe abhängig und sind kaum in der Lage, soziale Kontakte außerhalb der Kindererziehung aufzunehmen.

(55) Aufgrund der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen sind es vor allem die Frauen, die Arbeit in Familie und Ehrenamt übernommen haben. Nimmt man ihren Anteil an der Erwerbsarbeit hinzu, so werden etwa zwei Drittel der gesellschaftlich anfallenden Arbeit von Frauen geleistet. Weil Frauen immer noch den größten Teil der familiären Arbeit leisten, werden sie häufig noch zusätzlich bei den Einstellungsentscheidungen benachteiligt. Deshalb haben sie an der Erwerbsarbeit nicht in dem Maße teil, wie es ihrer Ausbildung und Qualifikation entspräche.

 

2.1.2 Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern

(56) Besonders belastend ist die Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Sie ist hier in einem Tempo und Umfang gestiegen, wie es in den alten Bundesländern weithin ohne Beispiel ist. Durch den Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft, die abrupte Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse ohne hinreichende strukturpolitische Begleitung, die mit der Währungsunion verbundene Aufwertung und den Verlust der bisherigen östlichen Märkte sind ganze Industriezweige weggebrochen. Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten mußten ihre Betriebe verlassen und sich um neue Arbeitsplätze bemühen.

(57) In den ersten 4 Jahren nach 1989 sank die Zahl der Erwerbstätigen von 10 Millionen auf etwa 6 Millionen. Ende 1996 lag die Arbeitslosenquote über 15 %. Mehr als ein Drittel der Arbeitslosen sind länger als ein Jahr arbeitslos. Eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit ist zu befürchten, wenn es nicht zu grundlegenden Änderungen kommt.

(58) Ein besonderes Problem der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Während in der DDR über 90 % der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig waren, wurden gerade sie nach der Wende verstärkt vom Arbeitsmarkt verdrängt. Viele von ihnen haben auf Dauer keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz. So sind mehr als 75 % der ostdeutschen Langzeitarbeitslosen Frauen, häufig gut qualifizierte jüngere Frauen. Sie haben die Hauptlast der Beschäftigungskrise zu tragen.

(59) Die ostdeutschen Eingaben im Rahmen des Konsultationsprozesses haben gezeigt, daß sich viele Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer trotz der umfangreichen westdeutschen Hilfe im Stich gelassen fühlen. Weil zu DDR-Zeiten die Erwerbsarbeit weit mehr als im Westen die Funktion hatte, die Menschen in das soziale Gefüge eines Betriebs zu integrieren, wird nunmehr die Arbeitslosigkeit stärker als ein Verlust von sozialen Bindungen und Möglichkeiten der Beteiligung am gesellschaftlichen Leben erfahren. Auch die Sozialleistungen der westdeutschen Sicherungssysteme, die in der Gesamtsumme beeindruckend sind, konnten nicht verhindern, daß viele Ostdeutsche heute eine höhere Unsicherheit ihrer materiellen Lebensgrundlagen und ihres sozialen Status empfinden. Die Arbeitslosigkeit hat über Jahrzehnte erworbene Arbeitserfahrungen und berufliche Qualifikationen entwertet. Bei den Menschen in den neuen Bundesländern verfestigt sich der Eindruck, daß sie von vielen Westdeutschen wegen ihrer Vergangenheit falsch eingeschätzt werden. Ein großer Teil der Westdeutschen, so machen sie geltend, habe keine rechte Vorstellung von ihren Nöten.

 

2.1.3 Ursachen der Arbeitslosigkeit

(60) Die Ursachen der seit 1973 trendmäßig zunehmenden strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland sind vielfältig und in der politischen Öffentlichkeit wie in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion umstritten. Entsprechend gingen auch die Meinungen im Verlauf des Konsultationsprozesses auseinander. Eines ist jedoch gewiß: Arbeitslosigkeit kann nicht monokausal erklärt werden.

(61) In den letzten Jahren hat sich das wirtschaftliche Wachstum deutlich verlangsamt. Die wirtschaftlichen Wachstumskräfte allein reichen offensichtlich nicht mehr aus, um die Arbeitslosigkeit nachhaltig abzubauen. Es ist zwar gelungen, die Zahl der Arbeitsplätze von Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre deutlich zu erhöhen, dies genügte aber nicht, um eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Das lag daran, daß in den vergangenen Jahren weitaus mehr Menschen zusätzlich Erwerbsarbeit nachgefragt haben und sich dadurch das Arbeitskräfteangebot wesentlich erhöht hat. Seit einigen Jahren ist ein erheblicher Abbau von Arbeitsplätzen zu verzeichnen, der sich in letzter Zeit weiter beschleunigt hat.

(62) Hinzu kommt, daß der strukturelle Wandel im industriellen Bereich im Zuge des technischen Fortschritts mit einer enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität einherging, ohne daß der Beschäftigungsrückgang im gleichen Maße durch eine Verringerung der Arbeitszeit oder die Ausweitung der Produktion kompensiert worden wäre. Der Beschäftigungszuwachs im Dienstleistungssektor hat nicht ausgereicht, den Verlust von Arbeitsplätzen im industriellen Bereich auszugleichen.

(63) Eine der Hauptursachen der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland wird nach einer verbreiteten Auffassung in den weltpolitischen Änderungen und der Globalisierung der Wirtschaft und des Wettbewerbs gesehen, die weitreichende Anpassungen in der internationalen Arbeitsteilung ausgelöst und dazu geführt hätten, daß sich auch die deutschen Unternehmen einem zweifellos härter gewordenen weltweiten Wettbewerb stellen müssen. Sie sähen sich in ihrer Wettbewerbsfähigkeit wesentlich eingeschränkt, insbesondere durch die hohen Lohnkosten, kurze Arbeitszeiten und das Ausmaß der Abgaben- und Steuerbelastung. Weitere Beeinträchtigungen ergäben sich aus subventionsbedingten Wettbewerbsverzerrungen, hohen Energiepreisen, einer hohen Bürokratisierung und Regulierung, Ressentiments gegen bestimmte neue Technologien, fehlendem Risikokapital und Währungsschwankungen. Das Problem zeige sich auch daran, daß deutsche Unternehmen zunehmend ihre Produktion in das Ausland verlagern, während ausländische Direktinvestitionen in Deutschland zurückgehen.

(64) Andere hingegen sehen dies anders. Sie verweisen darauf, daß die Arbeitsmarktkrise keine Besonderheit der deutschen Wirtschaft sei. Alle entwickelten Industrieländer seien durch dauerhafte Wachstumsverlangsamung und langfristig hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit (West-)Deutschlands sei zugleich außerordentlich hoch. Kein anderes Land exportiere einen so hohen Anteil seiner Produktion. Die Handelsbilanzen mit den südostasiatischen Schwellenländern und den osteuropäischen Reformstaaten seien ausgeglichen, weil diese Länder jede durch Exporte nach Deutschland verdiente Mark wieder für Importe von Industriegütern aus Deutschland ausgeben. Auch die hohen Direktinvestitionen im Ausland seien keine wirkliche Belastung für die deutsche Wirtschaft, denn sie dienten langfristig der Erschließung und Absicherung von Exportmärkten. In dieser Situation seien deshalb die aus der betriebswirtschaftlichen Sicht der Unternehmen naheliegenden nationalen Kostensenkungsstrategien (Lohn- und Lohnnebenkosten, Sozialstandards, Unternehmenssteuern, Umweltstandards) zur weiteren Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit jedenfalls volkswirtschaftlich gesehen kein Heilmittel. Derartige Strategien würden die ungleiche Verteilung der Einkommen verschärfen und die Lasten der Anpassung durch ruinösen Wettbewerb einseitig den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufbürden. Die Kaufkraft würde damit sinken.

(65) Die Globalisierung des Wettbewerbs ist in bestimmten Bereichen in der Tat mit einer erheblichen Reduzierung von Arbeitsplätzen verbunden. Länder mit niedrigem Lohnniveau übernehmen mehr und mehr die Produktion arbeitsintensiver Produkte. Deutschland und andere entwickelte Länder konzentrieren sich mehr auf die Herstellung von Produkten, die einen hohen Kapitaleinsatz und eine hohe berufliche Qualifikation verlangen. Der Bedarf an gering qualifizierten Arbeitsplätzen in Deutschland sinkt, der Bedarf an höher qualifizierten Arbeitsplätzen hingegen steigt. Das hat zur Folge, daß Menschen, die höheren Anforderungen nicht gewachsen sind, schwerer einen Arbeitsplatz finden.

(66) Als Ursache für die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland spielen hohe Lohnstückkosten eine wichtige Rolle. Beim Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft war die Produktivität in den ostdeutschen Betrieben zu gering, um nach der 1:1-Umstellung der Löhne und den folgenden Tarifabschlüssen, die auf eine zügige Anpassung an das westdeutsche Lohnniveau zielten, wettbewerbsfähig zu sein. Außerdem führten der Zusammenbruch der Comecon-Staaten (RGW), das Interesse der Bevölkerung an Westprodukten und die Einkaufspraxis des Großhandels zu Nachfrageproblemen. Die ungeklärten Eigentumsverhältnisse, die aufgrund des Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung« entstanden, sowie der Kauf und die baldige Schließung ostdeutscher Betriebe durch ihre westdeutschen Konkurrenten verschärften und verschärfen die Schwierigkeiten.

 

2.2 Krise des Sozialstaats

(67) Der Sozialstaat war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die entscheidende Voraussetzung dafür, daß der soziale Friede gewahrt werden konnte. Nach wie vor bietet er der großen Mehrheit der Bevölkerung soziale Sicherheit auf einem hohen Niveau. Jedoch stellen grundlegende Veränderungen in der Sozialstruktur, die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die demographische Entwicklung und die Situation der öffentlichen Haushalte das System sozialer Sicherung vor große Herausforderungen.

 

2.2.1 Armut in der Wohlstandsgesellschaft

(68) In den letzten 20 Jahren ist mit dem Reichtum zugleich die Armut in Deutschland gewachsen. Die Armut in Deutschland unterscheidet sich grundlegend von der Armut in den Ländern der Dritten Welt. Dennoch ist die Armut in der Wohlstandsgesellschaft ein Stachel. Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen. Sie ist mehr als nur Einkommensarmut. Häufig kommen bei bedürftigen Menschen mehrere Belastungen zusammen, wie etwa geringes Einkommen, ungesicherte und zudem schlechte Wohnverhältnisse, hohe Verschuldung, chronische Erkrankungen, psychische Probleme, langandauernde Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und unzureichende Hilfen. Diese Armutssituationen treffen besonders diejenigen, die mehrere Jahre auf Sozialhilfe angewiesen sind. Eine der schlimmsten Auswirkungen von Armut ist der Verlust der eigenen Wohnung, davon sind in Deutschland immer mehr Menschen, darunter verstärkt Familien mit Kindern, Alleinerziehende, Frauen und Jugendliche betroffen. Verläßliche bundesweite Daten über das gesamte Ausmaß akuter Wohnungsnotfälle, von Wohnungs- und Obdachlosigkeit liegen nicht vor, zumal es darüber keine einheitlichen Maßstäbe und Kriterien gibt. Allein die Zahl der Obdachlosen, die amtlich untergebracht („ordnungsrechtlich versorgt") sind, wird auf 250.000 bis 300.000 geschätzt.

(69) Armut wird heute immer noch stark tabuisiert. Der Streit über den Armutsbegriff ähnelt dem Streit, wie er Anfang der 70er Jahre über die Umwelt geführt wurde, als Probleme mit dem Hinweis geleugnet wurden, sie ließen sich nicht wissenschaftlich verläßlich nachweisen. Es gilt jedoch, die tatsächlich bestehende Armut zur Kenntnis zu nehmen. Hinter den unterschiedlichen Definitionen von Armut verbergen sich beunruhigende Fakten:

  • die „Einkommensarmut" oder „relative Armut": Legt man die Armutsgrenze bei 50 % des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens der Bevölkerung fest, wie dies aus pragmatischen Gründen der Vergleichbarkeit international üblich ist, so lebten nach dieser Rechnung in den Jahren 1984 bis 1992 750.000 Menschen ununterbrochen unter der Armutsgrenze, etwa 4,5 Millionen Menschen waren in diesem Zeitraum fünf Jahre oder länger arm. Da die sozialen Ungleichheiten aufgrund der ökonomischen Umbrüche in den neuen Bundesländern sehr schnell entstanden sind, erscheinen sie hier besonders kraß;
  • die „Sozialhilfebedürftigkeit": In Deutschland hat die Sozialhilfe die Aufgabe, allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Damit wird ein Mindesteinkommen im Sinne einer individualisierten und bedarfsorientierten Grundsicherung angestrebt. Am Jahresende 1994 bezogen über 2,25 Mio. Bürgerinnen und Bürger Sozialhilfe im engeren Sinn (Hilfe zum Lebensunterhalt). Der Trend hat sich in den letzten Jahren von der Altersarmut zur Kinderarmut verlagert. Die stärksten Zunahmen sind bei den Kindern unter sieben Jahren zu verzeichnen; ihre Zahl ist bis Ende 1994 auf 409.000 gestiegen. Das überdurchschnittliche Armutsrisiko von Kindern ist besonders deshalb so besorgniserregend, weil es sich leicht zu dauerhaften Benachteiligungen verfestigt. Seit dem Jahr 1992 ist außerdem wieder ein stärkerer Anstieg deutscher Sozialhilfeempfänger zu beobachten;
  • die „verdeckte Armut": Viele Bürgerinnen und Bürger leben in sog. verdeckter Armut, d. h. sie hätten eigentlich einen Sozialhilfeanspruch, nehmen diesen jedoch aus Scham, Unwissenheit oder großer Scheu vor Behörden nicht wahr. Zu ihnen zählen viele kinderreiche Familien mit nur einem Erwerbseinkommen. Nach der Armutsuntersuchung des Deutschen Caritasverbandes kommen auf vier Sozialhilfebezieher noch einmal drei verdeckt arme Menschen. Dies waren 1993 rund 1,8 Mio. Bürgerinnen und Bürger. Damit erhält nur knapp über die Hälfte der Sozialhilfeberechtigten tatsächlich entsprechende Leistungen.

Entscheidend ist, nicht beim Streit über den Begriff der Armut stehen zu bleiben und Armut nicht auf den Einkommensaspekt einzuengen. Es geht darum, die betroffenen Menschen sowie das Faktum Armut in der Wohlstandsgesellschaft zu sehen und die Notwendigkeit zu erkennen, sich für eine Verbesserung der Situation einzusetzen.

 

2.2.2 Benachteiligung der Familien

(70) Eltern erfahren ihr Zusammenleben mit Kindern als große Bereicherung ihres Lebens. Um ihrer Kinder willen nehmen sie viele Einschränkungen in Kauf. Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten so verändert, daß Eltern im Vergleich zu den Kinderlosen immer größere wirtschaftliche und persönliche Verzichte abgefordert werden und auch die Tragfähigkeit der familialen Beziehungen immer häufiger überlastet wird. Die wirtschaftliche Belastung von Familien mit Kindern kann dazu führen, daß sie weniger Kinder bekommen, als sie sich eigentlich wünschen. Die zunehmende Zahl von Kinderlosen in der Bundesrepublik Deutschland offenbart darüber hinaus, daß sich die Einstellung zu Kindern verändert hat.

(71) Statistische Erhebungen zeigen, daß der Lebensstandard einer Familie mit zwei Kindern erheblich unter dem eines entsprechenden kinderlosen Ehepaares liegt. Die Maßnahmen des Familienlastenausgleichs vermögen im Durchschnitt nicht einmal die unmittelbaren durch Kinder bedingten Aufwendungen, geschweige denn das durch den Rückgang der Erwerbsbeteiligung sinkende Haushaltseinkommen auszugleichen. Mehrere Kinder zu haben ist heute zu einem Armutsrisiko geworden. Schwerer noch als die finanziellen Einschränkungen wiegen jedoch für junge Familien andere Benachteiligungen: Sie suchen für Kinder geeigneten Wohnraum und erleben, sofern sie ihn überhaupt bezahlen können, daß ihnen Kinderlose vorgezogen werden. Mehrkinderfamilien sind hier sogar extrem benachteiligt. Sie erfahren Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, da sie in räumlicher und zeitlicher Hinsicht weniger flexibel sind. Auch der fortlaufende Verlust an gemeinsamer Zeit (etwa durch Schichtarbeit oder Sonntagsarbeit) trifft die Familien. Besondere Belastungen treten infolge von Arbeitslosigkeit und Überschuldung auf. Gegen die Wahrnehmung von Elternverantwortung verhalten sich Wirtschaft, Staat und soziale Dienste zwar nicht ablehnend, aber vielfach indifferent, d. h. sie behandeln Eltern und Kinderlose grundsätzlich gleich. Daraus resultiert eine strukturelle Benachteiligung der Familien. Deutschland gehört zu den Ländern Europas mit der geringsten Geburtenrate und dem größten Anteil an Einpersonenhaushalten.

 

2.2.3 Finanzielle Belastungen des sozialen Sicherungssystems

(72) Eine wesentliche Ursache der Finanzierungsschwierigkeiten der Sozialhaushalte ist die hohe Arbeitslosigkeit. Durch die Massenarbeitslosigkeit gehen den Sozialversicherungen erhebliche Beitragseinnahmen und den öffentlichen Haushalten entsprechende Lohnsteuereinnahmen verloren, während andererseits die Ausgaben der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung steigen. Geringere Einnahmen und steigende Ausgaben führen zu Beitragserhöhungen, die wiederum als Anstieg der Lohnnebenkosten die Beschäftigung beeinträchtigen können.

(73) Zur Höhe der Lohnnebenkosten trägt wesentlich bei, daß die Kassen der Sozialversicherungsträger (Rentenversicherung, Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung u. a.) durch Aufwendungen für die Finanzierung der deutschen Einheit und für die aktive Arbeitsmarktpolitik erheblich belastet werden. Diese Leistungen sind eigentlich Aufgaben des Staates, sie wurden aber den Sozialversicherungen übertragen. Weil die Finanzierung dieser sog. „versicherungsfremden Leistungen" durch Zuschüsse des Bundes nicht abgedeckt wird, mußten die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen mehrfach angehoben werden. Hinzu kommt, daß von den Möglichkeiten der Frühverrentung exzessiv Gebrauch gemacht wurde, um den Arbeitsmarkt zu entlasten.

(74) Die Sozialleistungsquote ist nicht zuletzt deshalb so hoch - sie liegt bei etwa einem Drittel des Bruttosozialprodukts -, weil sie in den neuen Ländern aus Gründen des wirtschaftlichen Strukturwandels gegenwärtig rund 60 % beträgt. In den alten Ländern dagegen ist sie so niedrig wie seit Jahren nicht mehr.

(75) Schwierigkeiten für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland ergeben sich weiterhin daraus, daß sich ihre ursprünglichen Voraussetzungen in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert haben. Zum einen orientieren sich die Lebensentwürfe jüngerer Frauen ganz überwiegend zugleich an Erwerbsarbeit und Familie, und die Frauenerwerbstätigkeit hat insbesondere mit dem Wachstum der Büro- und Dienstleistungstätigkeiten stark zugenommen. Gleichzeitig sind jedoch die Familienbindungen instabiler geworden. Der Anteil der Alleinerziehenden nimmt dementsprechend zu. Zudem bewirken die Verknappung des Angebots an Erwerbsarbeit und die Veränderung der Beschäftigungsstrukturen eine Zunahme der Teilzeitbeschäftigungen mit wenig gesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Damit steigt der Anteil derjenigen, deren Lebensläufe nicht den Normalitätsannahmen des sozialen Sicherungssystems entsprechen und die infolgedessen eher von Armut bedroht und auf Sozialhilfe angewiesen sind.

(76) Hauptursachen des Anstiegs der Sozialhilfeausgaben sind Massenarbeitslosigkeit, Kürzungen bei den Sozialversicherungsleistungen, unzulängliche Familienförderung und die Aufwendungen für Asylbewerber und Zuwanderer. Offenbar wurden und werden die der Sozialhilfe vorgelagerten Sicherungssysteme ihren Anforderungen nicht mehr gerecht. Die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz im System sozialer Sicherung wurde in den letzten Jahren dadurch belastet, daß sie mehr und mehr zu einer Regelversorgung für einen wachsenden Teil der Gesellschaft geworden ist.

(77) Über die aktuellen Finanzierungsschwierigkeiten hinaus stellt die Bevölkerungsentwicklung das System der sozialen Sicherung vor zusätzliche Herausforderungen. Eine anhaltend niedrige Geburtenrate und eine deutlich gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung führen zu einem zunehmenden Anteil älterer Menschen auf der einen und einem stagnierenden und zukünftig abnehmenden Anteil der erwerbstätigen Generation sowie von Kindern und Jugendlichen auf der anderen Seite. Dies hat nicht nur für die Rentenversicherung, sondern auch für die Krankenversicherung und für den Bereich der Altenpflege erhebliche Auswirkungen. Eine Verschlechterung des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen der Zahl der Rentenempfänger und der Zahl der Beitragszahler muß (bei unveränderten Leistungen) zu höheren Beitragssätzen oder (bei unveränderten Beiträgen) zu einer deutlichen Verringerung der Höhe der Renten führen. Ähnliche Probleme entstehen auch für die Finanzierung der Beamtenversorgung.

 

2.3 Ökologische Krise

(78) Die ökologische Krise ist ein weltweites Problem. Deutschland trägt an diesen weltweiten Problemen mit. Die Industrialisierung hat zu einer wachsenden Überforderung der Tragekapazitäten der Ökosysteme geführt. Obwohl in manchen Branchen bereits ein recht hohes Niveau des technischen Umweltschutzes erreicht ist, wird die Regenerationsfähigkeit der Natur oftmals überbelastet; viele Gefährdungen, Schädigungen und Belastungen nehmen weiterhin zu.

(79) Zu den gravierendsten Umweltschäden gehören die Übernutzung und Vernichtung erneuerbarer Ressourcen, die Belastung von Luft, Wasser und Boden, die Ausrottung zahlreicher Pflanzen- und Tierarten, der Raubbau an nicht erneuerbaren Ressourcen, die Zerstörung und Verödung von Landschaften und Regionen, das hohe Abfallaufkommen sowie das ungeklärte Problem der atomaren Endlagerung. Zu den Problemen, auf die bisher nicht in der notwendigen Weise reagiert wurde, zählen vor allem der Abbau der Ozonschicht und die Erwärmung der Erdatmosphäre. Diese klimatischen Umweltgefährdungen stellen aufgrund ihres globalen Charakters sowie ihrer schwer kalkulierbaren Folgen für die ökologischen Kreisläufe eine qualitativ neuartige und existentielle Herausforderung für die moderne Zivilisation dar. Viele Bemühungen um Verbesserung scheitern an nationalstaatlichem Egoismus und an der Kurzsichtigkeit betroffener Branchen. Die Fakten sind kaum noch umstritten. Auch an politischen Absichtserklärungen fehlt es nicht. Dennoch gelingt es nur mühsam, diese Einsichten in konkrete Maßnahmen umzusetzen und sie für die ökologische Kooperation der Staaten zu nutzen.

(80) Insbesondere die Industriegesellschaften nehmen eine Entwicklung, die an die Grenzen der Tragekapazität wichtiger ökologischer Systeme stößt. Durch den rapiden Verbrauch der natürlichen Lebensgrundlagen werden die Lebenschancen der Menschen in den Ländern des Südens und der künftigen Generationen in erheblichem Maß beeinträchtigt. Wenn es nicht gelingt, die Ausbeutung der Natur wirksam einzuschränken, wird der Nachwelt eine Hypothek hinterlassen, die sie kaum mehr abtragen kann. Nachsorgender Umweltschutz wird immer schwerer finanzierbar, viele gravierende Schädigungen der Lebensgrundlagen erweisen sich als irreversibel. Je mehr also nötige Umweltschutzmaßnahmen versäumt werden, desto mehr ist zu befürchten, daß auch künftig lediglich die gröbsten Schäden beseitigt werden können und damit die langfristigen Belastungen für andere Länder und künftige Generationen weiter ansteigen. Trotz der mittlerweile enorm verbesserten Möglichkeiten für einen effektiven und schonenden Umgang mit den Ressourcen sowie für eine Reduktion des Schadstoffausstoßes wachsen die Umweltschäden weiter an. Ein Wohlstandsgewinn durch nur quantitatives Wirtschaftswachstum wird in Westeuropa somit immer fragwürdiger.

(81) In ökologischer Hinsicht gewinnt vor diesem Hintergrund der Beitrag, den die Land- und Forstwirtschaft über die Versorgung mit hochwertigen Produkten hinaus zur Sicherung und Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Erhaltung einer vielfältigen Landschaft als Siedlungs-, Wirtschafts- und Erholungsraum leistet, ein besonderes Gewicht. Die überkommenen, bewährten Prinzipien bäuerlichen Wirtschaftens sind auf eine umweltverträgliche und nachhaltige Bodennutzung und Tierhaltung ausgerichtet. Um so bedauerlicher ist, daß weder die Reform der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik noch nationalstaatliche Programme verhindern konnten, daß immer weniger Landwirte in der Landwirtschaft eine auskömmliche Existenz finden und eine Zukunftsperspektive sehen. Zahlreiche Bauern haben ihre Landwirtschaft bereits aufgeben müssen. Andere fürchten um ihre berufliche Existenz oder - wenn eine Übergabe nicht möglich ist - um das Fortbestehen ihres Hofes. Die Schwierigkeiten greifen auch auf andere Bereiche und Berufe des ländlichen Raums wie Handwerk, Handel und Dienstleistungen über. Das traditionelle Bild der Landwirtschaft in der Kulturgemeinschaft des Dorfes verliert damit an prägender Kraft. Der fortschreitende Wandel von einer bäuerlich geprägten Landwirtschaft zur Agrarindustrie schreitet weiter fort.

 

2.4 Europäischer Integrationsprozeß

(82) Die Politik der europäischen Einigung ist für den Kontinent und für die Zukunft Deutschlands von entscheidender Bedeutung. 50 Jahre Frieden und Stabilität in Westeuropa, der Wiederaufstieg der europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg, die friedliche Einbeziehung Deutschlands in die Völkergemeinschaft sowie die Wiederherstellung der deutschen Einheit im Einklang mit den europäischen Partnern wären ohne die europäische Integration nicht möglich gewesen. Auch in Zukunft muß das Einigungswerk fortgesetzt werden, um in Europa Frieden und Stabilität sowie den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu sichern. Das historische Werk der europäischen Einigung darf keinesfalls auf den wirtschaftlichen Aspekt verkürzt werden. Die Fundamente für dieses Einigungswerk wurzeln sehr viel tiefer: in jahrhundertealter, gemeinsamer, christlich geprägter Geschichte und Überlieferung, und damit in dem Bewußtsein der Europäer, daß sie eine Wertegemeinschaft sind, aus der sich gemeinsame politische Orientierungen, Normen und Institutionen wie Demokratie, Rechtsstaat und moderner Sozialstaat entwickelt haben. Aufbauend auf diesen gemeinsamen Werten ist die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft entstanden, die in viele Lebensbereiche hinein Wirkungen entfaltet.

(83) Auf dem Hintergrund des Prozesses der Globalisierung erhält die europäische Integration zusätzliches Gewicht. Der europäische Einigungsprozeß, insbesondere die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, steht für die Einsicht, daß eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nicht von den internationalen Märkten abhängig sein will, übergreifender Entscheidungs- und Koordinationsinstanzen bedarf. Die Institutionen und Instrumente, wie sie innerhalb der Europäischen Union entstanden sind und fortentwickelt werden müssen, eröffnen Möglichkeiten, um eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter auszubauen.

 

2.5 Globale Herausforderungen

(84) Der Prozeß der fortschreitenden Globalisierung basiert auf der weltweiten Integration von Märkten sowie dem Abbau von Handelsschranken und Mobilitätsbarrieren. Er wäre nicht möglich ohne die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Globalisierung bedeutet: weltweite Öffnung der Märkte für Waren und Dienstleistungen, zunehmende Freizügigkeit für unternehmerisches Handeln und weltweite Verfügbarkeit technischen Wissens und Könnens sowie qualifizierter Arbeitskräfte. Hinzu kommt eine wachsende Mobilität des Kapitals. Zunehmend werden finanzielle Mittel nicht im eigenen Land reinvestiert, sondern auf den internationalen Kapitalmärkten angelegt, so daß sie für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen im eigenen Land nicht verfügbar und der Aufgabe, im nationalen Rahmen Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten, entzogen sind. Mehr und mehr verselbständigt sich damit der Kapitalverkehr.

(85) Die Globalisierung führt damit nicht nur dazu, daß die Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte die Grenzen der Nationalstaaten immer häufiger überschreiten, sondern hat auch zur Folge, daß die Produktions- und Investitionsentscheidungen in wachsendem Maße den Standort in mehreren Ländern betreffen. Arbeitsprozesse oder Wertschöpfungsanteile werden kostenminimierend auf verschiedene Länder verteilt. Einfache Produktionen sind dort zu finden, wo die Löhne niedrig sind, geforscht wird in den Ländern, in denen es kaum gesetzliche Beschränkungen gibt, Gewinne werden dort ausgewiesen, wo die Steuersätze besonders gering oder die Abschreibungsregeln besonders großzügig sind.

(86) Im Zuge der Globalisierung hat sich der Wettbewerb erheblich verschärft. Die Schwellenländer Mittel- und Osteuropas, Südostasiens und Lateinamerikas verlangen mit ihren Produkten Zugang zu den Märkten der Industrienationen und empfehlen sich gleichzeitig als Standorte für neue Investitionen. Die Löhne in den östlichen Nachbarländern Deutschlands liegen bei den derzeitigen Wechselkursen zum Teil bei einem Zehntel (Tschechien und Polen) der Löhne in Deutschland, zum Teil sogar bei einem Hundertstel (Ukraine und Rußland).

(87) Die Globalisierung birgt Chancen und Risiken. Der deutschen Wirtschaft eröffnet sie seit langem ausgiebig genutzte Möglichkeiten, an den rasch wachsenden weltweiten Märkten teilzunehmen. Viele Länder des Südens und des Ostens haben Zugang zu den Märkten in den Industrieländern erhalten. Unter der Voraussetzung, daß der Welthandel nicht durch protektionistische Bestrebungen der Industrieländer weiter verzerrt wird, ist dieser Marktzugang sogar wichtiger als Entwicklungshilfe. In einer Reihe von Ländern, z. B. in Asien und Lateinamerika, wurde ein wirtschaftlicher Aufschwung erzielt, der auch großen Teilen der Bevölkerung dieser Länder, jedoch nicht allen in gleicher Weise zugute kam. Der neue Wohlstand führt dort auch zu mehr sozialer Sicherung. Andererseits nimmt die Polarisierung zwischen den dynamischen Wachstumszentren und den Regionen, die den Anschluß an diese Entwicklung verlieren, zu.

(88) Nationalstaatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik wird im Zeitalter der Globalisierung schwieriger. Weil bei den Standortentscheidungen die Vorteile der verschiedenen Nationalstaaten miteinander verglichen werden, stößt die herkömmliche nationalstaatliche Wirtschaftspolitik an Grenzen. Der Prozeß der Globalisierung ist von einer so starken Eigendynamik, daß er von einem einzelnen Nationalstaat immer schwerer beeinflußt werden kann. Die Globalisierung der Wirtschaft bedeutet gleichzeitig die Globalisierung der sozialen und der ökologischen Frage. Damit wächst die Bedeutung einer gemeinsamen Verantwortung der Völkergemeinschaft. Globalisierung ereignet sich nicht wie eine Naturgewalt, sie verlangt nach politischer Gestaltung.

(89) Das Wohlstandsgefälle zwischen den ärmsten und den reichen Ländern hat weiter zugenommen. In einigen Entwicklungsländern verhindern oder bremsen korrupte Eliten, ethnische Konflikte und geringe Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung die wirtschaftliche und politische Entwicklung. Neben diesen internen stehen die externen Faktoren, die die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in den Industrieländern beeinflussen können. Dazu gehören der Agrarprotektionismus der Industrieländer, eine nur schleppend vorankommende Entschuldung und Entscheidungen und Absprachen internationaler Organisationen (z. B. Internationaler Währungsfonds, Weltbank, UNO-Sicherheitsrat).

(90) Kriege, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Naturkatastrophen, Elend und Hunger zwingen weltweit immer mehr Menschen zum Verlassen ihrer Heimatländer. Die schnelle Zunahme und das Ausmaß von Migration, Flucht und Vertreibung in aller Welt sind zu einem der prägenden Merkmale der letzten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Dies läßt auch Deutschland nicht unberührt. Die Migranten, die als Arbeitnehmer, Flüchtlinge und Asylbewerber oder auch als Aussiedler nach Deutschland kommen, sind nur ein kleiner Teil der weltweiten Wanderungsbewegung. Derzeit leben in Deutschland fast 8 Mio. Ausländer, davon 5,5 Mio. Arbeitsmigranten mit ihren Familien. Viele von ihnen sind rechtlich und gesellschaftlich noch nicht integriert, obwohl sie vielfach bereits in der zweiten und dritten Generation in Deutschland leben. Der Umgang mit ihnen ist ein Bewährungsfeld für die Offenheit, Solidarität, Toleranz und Freiheitlichkeit der Gesellschaft.7

 

3. Perspektiven und Impulse aus dem christlichen Glauben

3.1 Die Frage nach dem Menschen

(91) Analysen gesellschaftlicher Herausforderungen setzen bestimmte Kriterien der Wahrnehmung voraus und schließen anthropologische und ethische Vorentscheidungen ein. Ebenso gründet die Soziale Marktwirtschaft auf anthropologischen und ethischen Vorentscheidungen. Sie geht aus von einem Menschenbild, das Freiheit und persönliche Verantwortung wie Solidarität und soziale Verpflichtung beinhaltet. Insofern beruht die Soziale Marktwirtschaft auf Voraussetzungen, welche sie selbst nicht herstellen und auch nicht garantieren kann, ohne die sie aber auf Dauer nicht lebensfähig ist. Gerade in der gegenwärtigen Situation eines tiefgreifenden Umbruchs muß an diese Voraussetzungen erinnert werden, weil allein so Kräfte für die Vision wie für die Motivation erwachsen können, angesichts der neuen Herausforderungen das Leitbild einer solidarischen und gerechten Gesellschaft zu verwirklichen.

(92) Die Besinnung auf das Menschenbild und die Grundwerte, auf denen die Soziale Marktwirtschaft gründet, ist die unerläßliche Voraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Hier liegt der genuine Beitrag der Kirchen. Denn das Menschenbild des Christentums gehört zu den grundlegenden geistigen Prägekräften der gemeinsamen europäischen Kultur und der aus ihr erwachsenen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung.

 

3.2 Weltgestaltung aus dem christlichen Glauben

3.2.1 Weltgestaltung als Gabe und Aufgabe

(93) Im Licht des christlichen Glaubens erschließt sich eine bestimmte Sicht des Menschen: Er ist als Bild Gottes, als das ihm entsprechende Gegenüber geschaffen und so mit einer einmaligen unveräußerlichen Würde ausgezeichnet. Er ist als Mann und als Frau geschaffen; beiden kommt gleiche Würde zu. Zugleich ist er mit der Verantwortung für die ganze Schöpfung betraut; der Mensch soll Sachwalter Gottes auf Erden sein (Gen/1. Mos 1,26-28). So ist der Mensch geschaffen und berufen, um als leibhaftes, vernunftbegabtes, verantwortliches Geschöpf in Beziehung zu Gott, seinem Schöpfer, zu den Mitmenschen und zu allen Geschöpfen zu leben. Das ist gemeint, wenn vom Menschen als Person und von seiner je einmaligen und unveräußerlichen Würde als Person die Rede ist.

(94) Die Bibel spricht auch von der Gebrochenheit der ursprünglichen Schöpfungsordnung, von der Entfremdung des Menschen von seiner eigentlichen Bestimmung. In den Geschichten vom Brudermord Kains an Abel, vom Turmbau zu Babel und von der Sintflut deutet sie in Bildern die durch Sünde und Schuld, durch menschlichen Hochmut und Egoismus wie durch strukturelle Ungerechtigkeit bestimmte menschheitliche Situation. Sie bezeugt freilich zugleich den Anbruch der neuen Schöpfung durch Kreuz und Auferstehung Jesu Christi, das Geschenk der Vergebung und Versöhnung wie der neuen Freiheit. Weil die Menschen in Jesus Christus bereits erlöst sind, brauchen sie sich in ihrer Lebens- und Weltgestaltung nicht selbst zu erlösen. Das befreit zu einem Handeln, das nicht länger der Sorge um sich selbst und der Absicherung durch Macht verpflichtet ist, sondern den Anforderungen der Sache und dem gegenseitigen Dienst. Der christliche Glaube lebt von der Hoffnung auf die neue Schöpfung, in welcher alle Tränen abgetrocknet, Klage, Trauer und Mühsal nicht mehr sein werden (Offb 21,4). Menschen können dieses Reich Gottes nicht „machen". Den Perfektionszwängen und Überforderungen ist damit der Abschied gegeben. Die christliche Hoffnung macht fähig, im Raum des Vorletzten das, was unvollkommen bleibt, auszuhalten und zu würdigen. Sie gibt keine detaillierten Handlungsanweisungen, sie nimmt aber in Verantwortung für die Welt und den Menschen. Sie gibt Licht und Kraft, Mut und Zuversicht, sich unter den Bedingungen und in den Verhältnissen dieser Welt für eine menschenwürdige, freie, gerechte und solidarische Ordnung einzusetzen. Dieser Einsatz im Horizont des Reiches Gottes heißt, Zeugnis zu geben von der Würde des Menschen.

(95) Trotz der Gebrochenheit menschlicher Existenz ist dem von Gott berufenen Menschen mit der Schöpfung wie mit der Erlösung die Fähigkeit zu einer verantwortlichen Gestaltung der Welt geschenkt. Dieses Können geht allem Sollen voraus. Die ethische Forderung entspringt der von Gott gegebenen Befähigung zu einem vernünftigen und verantwortlichen Handeln. Solcher Zuspruch und solche Ermutigung ist in der gegenwärtigen Umbruchsituation in besonderer Weise vonnöten.

 

3.2.2 Weltgestaltung aus geschichtlicher und heilsgeschichtlicher Erfahrung

(96) Die Berufung zur verantwortlichen Lebens- und Weltgestaltung gilt jedem und jeder einzelnen, jedoch nicht als Vereinzelte. Gott hat den Menschen als Individuum wie als Gemeinschaftswesen geschaffen und in die Gemeinschaft des Volkes Gottes berufen. Das Volk Gottes lebt aus der Erinnerung an die Geschichte des Erbarmens Gottes; es erzählt immer wieder Geschichten des göttlichen Erbarmens und feiert es in seinen Festen. Daraus schöpft es Kraft und Zuversicht; es weiß sich dadurch zugleich motiviert zur barmherzigen und solidarischen Zuwendung zu den Armen, Schwachen und Benachteiligten. Das Erbarmen macht damit ernst, daß jeder menschlichen Person, auch den Schwachen und den mit Schuld Beladenen, eine unveräußerliche Würde zukommt. Dieser Schatz geschichtlicher Erinnerung hilft, den neuen Herausforderungen gerecht zu werden.

(97) Die grundlegende geschichtliche Erfahrung ist die der Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten. Sie zeigt: Gott ist seinem Volk gnädig und barmherzig; er will das Leben der Menschen, und er befreit sie zur Freiheit. Er will zugleich, daß die Menschen sich ebenso wie er zu ihren Mitmenschen verhalten. So gründet die Lebensordnung der Zehn Gebote (Ex/2. Mos 20,1-17; Dtn/5. Mos 5,6-21) in der Erfahrung der Befreiung und im Bund Gottes mit seinem Volk. Sie zielt darauf, die in Gottes Befreiung geschenkte Freiheit durch Achtung vor dem Leben, durch Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wie durch Zeugnis für die Wahrheit zu verwirklichen. Die Zehn Gebote sind Weisungen zu einem Leben in Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit. Als solche sind sie kein biblisches Sonderethos; sie nehmen vielmehr allgemein-menschheitliche Einsichten auf, bestätigen und bekräftigen sie aufgrund der Erfahrungen in der Geschichte Gottes mit seinem Volk.

(98) Die Erfahrung der Treue Gottes, der trotz menschlicher Untreue seinen Bund bewahrt, steht Hoffnung stiftend gegen die vielfältigen Kontrasterfahrungen der Geschichte, die Erfahrung der Ungerechtigkeit, Treulosigkeit und Verlogenheit. Sie lädt die Menschen immer wieder neu ein zu einem Handeln, das dem rechtschaffenden und gnädigen Willen Gottes für jeden einzelnen wie für alle dadurch Raum schafft, daß es die Mächte des Bösen eindämmt und das Gute befördert. Die Bibel übt prophetische Kritik an gesellschaftlichen Unrechtssituationen (Am 4,1; 5,7-15; 6,1-8; Jes 1,15-17; 10,1-4 u. a.); sie setzt sich vor allem für die Benachteiligten und für die Fremden ein (Ex/2. Mos 22,20-26; 23,6-9; Lev/3. Mos 19,11-18.33f; Dtn/5. Mos 15,7-11; 24,17-22 u. a.). So wird in großen Teilen des Alten Testaments die gesellschaftsgestaltende Kraft des biblischen Glaubens deutlich.

(99) Das Auftreten und die Botschaft Jesu liegen auf der Linie der Gottes- und Geschichtserfahrung seines Volkes. Jesus verbindet seine Botschaft vom Kommen des Reiches Gottes und die Einladung zum Glauben mit dem Ruf zur Umkehr (Mk 1,15), d. h. zu einem Leben, das ganz auf Gott und seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit setzt und sie im mitmenschlichen Leben bewährt. Jesus erneuert und erfüllt die alttestamentliche Verheißung der Befreiung und Heilung (Lk 4,16-30) und stellt sie in den Seligpreisungen der Bergpredigt ganz in den Horizont der Verheißung des Lebens für die Armen, Kleinen, Sanftmütigen und Gewaltlosen (Mt 5,3-12; Lk 6,20-26). Wenn er die alttestamentliche Forderung, heilig zu sein, so wie Gott heilig ist (Lev/3. Mos 19,2), aufnimmt (Mt 5,48), dann bedeutet dies für ihn zugleich, barmherzig zu sein, so wie Gott barmherzig ist (Lk 6,36). Mit dem Gebot der Nächsten-, ja der Feindesliebe (Mt 5,43-47; Lk 6,27-28) greift Jesus aus der Menschheitsüberlieferung die Goldene Regel auf und überbietet sie zugleich: „Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen." (Mt 7,12; Lk 6,31) Jesus hat diese Haltung nicht nur gelehrt, sondern sie auch vorgelebt. Er war ganz der Mensch für die anderen Menschen. Er ist selbst den Weg der Solidarität, der Barmherzigkeit und der Gewaltlosigkeit gegangen. Aufgrund seines Leidens und seines gewaltsamen Todes ist er den Menschen in allem solidarisch geworden (Phil 2,6-11). Kreuz und Auferstehung Jesu Christi begründen die Hoffnung, daß Gott ihnen in allen und gerade in den menschlich hoffnungslosen Situationen Heil schaffend nahe ist.

 

3.2.3 Weltgestaltung als Auftrag der Kirche als Volk Gottes

(100) Die Linien des biblischen Ethos, die im Alten wie im Neuen Testament aufgezeigt sind, bestimmen auch die Lebensordnung und die soziale Botschaft der Kirche als Volk Gottes. In der Nachfolge Jesu existiert die Kirche nicht für sich selbst, und sie darf sich auch nicht nur mit sich selbst beschäftigen. Sie hat eine Sendung für alle Menschen und alle Völker (Mt 28,19). Sie soll durch Wort und durch Tat allen Menschen die frohe und befreiende Botschaft von Gottes Gegenwart mitten in unserem Leben und in unserer Geschichte bezeugen. Ihre Botschaft vom Heil gilt dem einzelnen Menschen wie dem Zusammenleben der Menschen und der Völker. Die Kirche hat damit einen öffentlichen Auftrag und eine Verantwortung für das Ganze des Volkes und der Menschheit.

(101) Deshalb dürfen Glauben und Leben, Verkündigung und Praxis der Kirche sowohl im eigenen Verhalten der Kirche wie in ihrer Botschaft nicht auseinandertreten. Die Christen können nicht das Brot am Tisch des Herrn teilen, ohne auch das tägliche Brot zu teilen. Ein weltloses Heil könnte nur eine heillose Welt zur Folge haben. Der Einsatz für Menschenwürde und Menschenrechte, für Gerechtigkeit und Solidarität ist für die Kirche konstitutiv und eine Verpflichtung, die ihr aus ihrem Glauben an Gottes Solidarität mit den Menschen und aus ihrer Sendung, Zeichen und Werkzeug der Einheit und des Friedens in der Welt zu sein, erwächst. Auch in dem Bemühen um gegenseitige Annäherung und um Einheit versuchen die getrennten Kirchen, dieser ihrer Sendung zu entsprechen und Zeichen der Versöhnung zu setzen.

(102) Die soziale Botschaft, die die Kirchen auf der Grundlage des biblischen Ethos in wachsender Gemeinsamkeit im gesellschaftlichen Raum geltend machen, ist das Ergebnis der Reflexion über menschliche Erfahrungen in verschiedenen geschichtlichen Situationen und Kulturen. Die christliche Soziallehre ist darum kein abstraktes System von Normen; sie entspringt vielmehr der immer wieder neuen Reflexion auf die menschliche Erfahrung in Geschichte und Gegenwart im Licht des christlichen Menschenbildes. Sie gibt keine technischen Lösungen und konkreten Handlungsanweisungen, sondern vermittelt Perspektiven, Wertorientierungen, Urteils- und Handlungskriterien. Sie hat sowohl eine prophetisch-kritische wie eine ermutigende, versöhnende und heilende Funktion.

 

3.3 Grundlegende ethische Perspektiven

3.3.1 Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe

(103) Die Erinnerung an Gottes Erbarmen begründet das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe (Mk 12, 28-31 par), in dem das menschliche Handeln seine grundlegende biblische Orientierung findet. Dieses Doppelgebot gilt nach neutestamentlichem Zeugnis als Zusammenfassung aller anderen Gebote und so als „Erfüllung des Gesetzes" (Röm 13,8-10). Jesus setzt das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe mit dem Gehalt des alttestamentlichen Gesetzes gleich (vgl. Mt 22,34-40). Es ist die Grundnorm, in der sich das biblische Ethos als Gemeinschaftsethos auf den Begriff bringen läßt. Dabei bleibt der Anspruch nicht auf die Gemeinschaft des Volkes Israel oder der christlichen Gemeinde beschränkt. Im Gebot, den Fremden zu lieben „wie dich selbst" (Lev/3. Mos 19,34), und im Gebot der Feindesliebe (Lk 6,27.35) werden alle Grenzen überschritten. Es kommt zu einer Entfeindung aller mitmenschlichen Beziehungen und zu einer Entgrenzung mitmenschlicher Solidarität. So kommt in der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe der Zusammenhang von Gottesbeziehung und Weltverantwortung, von Glaube und Ethos als sittliche Grundidee der biblischen Tradition zum Ausdruck.

(104) Gottesliebe ohne Nächstenliebe bleibt abstrakt, ja letztlich unwirklich: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder haßt, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht." (1 Joh 4,20) Deshalb wird die Gottesliebe in der Nächstenliebe zur Tat, wie umgekehrt die gelebte Nächstenliebe zur Gottesliebe führt. Wenn also Gottes- und Nächstenliebe, Glaube und Ethos, Bekenntnis sowie Feier des Glaubens und Praxis der Gerechtigkeit nicht voneinander zu trennen sind, dann muß sich das Doppelgebot der Liebe auch in der strukturellen Dimension auswirken: in dem Ringen um den Aufbau einer Gesellschaft, die niemanden ausschließt und die Lebenschancen für alle sichert.

 

3.3.2 Vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten

(105) Die christliche Nächstenliebe wendet sich vorrangig den Armen, Schwachen und Benachteiligten zu. So wird die Option für die Armen zum verpflichtenden Kriterium des Handelns. Die Erfahrung der Befreiung aus der Knechtschaft, in der sich Gottes vorrangige Option für sein armes, geknechtetes Volk bezeugt, wird in der Ethik des Volkes Israel zum verbindlichen Leitmotiv und zum zentralen Argument für die Gerechtigkeitsforderung im Umgang mit den schwächsten Gliedern der Gesellschaft: Das Recht der Armen wird begründet mit der Erinnerung an die Rettung aus der Sklaverei: „Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen. Du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen. Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, dort freigekauft. Darum mache es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten." (Dtn/5. Mos 24,17f) Besonders eindringlich prangern die Propheten Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Unterdrückung an, die das Leben der Gesellschaft Israels vergiften, und stellen die Verantwortlichen unter das Urteil Gottes (Am 2,6f u. a.). Dabei geht es nicht um Vernichtung, sondern um die Rettung der ganzen Gemeinschaft des Gottesvolkes. Entscheidend ist: Der lebensförderliche Umgang mit den Armen, die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit sind Indiz der Treue zum Gottesbund.

(106) In der Gerichtsrede des Matthäusevangeliums gewinnt der Zusammenhang zwischen der Option Gottes für die Armen und dem gerechten Tun der Menschen sehr konkreten Ausdruck. Jesus Christus macht die Entscheidung über die endgültige Gottesgemeinschaft der Menschen abhängig von der gelebten Solidarität mit den Geringsten. „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen ... Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Mt 25,34-36.40) Die versöhnliche Begegnung mit den Armen, die Solidarität mit ihnen, wird zu einem Ort der Gottesbegegnung.

(107) In der vorrangigen Option für die Armen als Leitmotiv gesellschaftlichen Handelns konkretisiert sich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. In der Perspektive einer christlichen Ethik muß darum alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie hält an, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.

 

3.3.3 Gerechtigkeit

(108) Wenn die Christen das biblische Zeugnis mit den aktuellen Herausforderungen zusammen lesen, gewinnen sie nicht nur ethische Orientierungen für das eigene Handeln; es ergeben sich vielmehr auch ethische Einsichten, die sich auf den institutionellen Rahmen der Gesellschaft beziehen. Dazu gehört vor allem der Begriff der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist ein Schlüsselbegriff der biblischen Überlieferung, der alles umschließt, was eine heile Existenz des Menschen ausmacht. Er steht in der Bibel in Verbindung mit Frieden, Freiheit, Erlösung, Gnade, Heil.

(109) In der älteren philosophischen und theologischen Diskussion wurde die Idee der Gerechtigkeit als grundlegendes Ordnungsprinzip der Gesellschaft entfaltet. Sie besagt, daß jedem das Seine und d. h. daß jedem sein Recht zukommt, als Person anerkannt zu werden und ein menschenwürdiges Dasein zu führen. Jedem kommt das Recht zu, die grundlegenden materiellen und immateriellen Möglichkeiten zu haben, um sein Leben in eigener Verantwortung zu gestalten und bei der Gestaltung des Lebens der Gesellschaft mitbestimmen und mitwirken zu können. Jedem kommt damit auch das als sein Recht zu, was er aufgrund öffentlich anerkannter Regeln durch eigene Leistung geschaffen bzw. erworben hat. Dieses Recht jedes einzelnen ist von allen anderen wie vom Gesellschaftsganzen zu respektieren, wie umgekehrt jeder die Rechte der anderen und des Ganzen der Gesellschaft respektieren muß. Allein durch solche Gerechtigkeit ist der Frieden in der Gesellschaft und in der Welt zu sichern.

(110) In der theologischen Tradition wurde die Idee der Gerechtigkeit nach den verschiedenen Beziehungsebenen aufgegliedert. Danach hat der einzelne gegenüber dem Staat bzw. dem Gesellschaftsganzen die Verpflichtung, die als Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis) bezeichnet wird; umgekehrt ist der Staat dem einzelnen gegenüber in der Pflicht im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva). Beide zielen auf die gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten im Gemeinwesen. Darüber hinaus sind die Beziehungen zwischen den Gesellschaftsgliedern nach Gerechtigkeitsmaßstäben zu gestalten; dies besagt die ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa), die im Hinblick auf die Situation in der Wirtschaft auch das Gebot der Fairneß in den Marktbeziehungen umfaßt.

(111) So wichtig und für die Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen hilfreich eine solche Einteilung ist, so wenig kann sie unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft genügen. Deshalb hat der Begriff der sozialen Gerechtigkeit als übergeordnetes Leitbild Eingang in die Sozialethik der Kirchen gefunden. Er besagt: Angesichts real unterschiedlicher Ausgangsvoraussetzungen ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, bestehende Diskriminierungen aufgrund von Ungleichheiten abzubauen und allen Gliedern der Gesellschaft gleiche Chancen und gleichwertige Lebensbedingungen zu ermöglichen.

(112) In dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit drückt sich aus, daß soziale Ordnungen wandelbar und in die gemeinsame moralische Verantwortung der Menschen gelegt sind. Zur Verwirklichung von Gerechtigkeit gehört es daher, daß alle Glieder der Gesellschaft an der Gestaltung von gerechten Beziehungen und Verhältnissen teilhaben und in der Lage sind, ihren eigenen Gemeinwohlbeitrag zu leisten. „Suche nach Gerechtigkeit ist eine Bewegung zu denjenigen, die als Arme und Machtlose am Rande des sozialen und wirtschaftlichen Lebens existieren und ihre Teilhabe und Teilnahme an der Gesellschaft nicht aus eigener Kraft verbessern können. Soziale Gerechtigkeit hat insofern völlig zu Recht den Charakter der Parteinahme für alle, die auf Unterstützung und Beistand angewiesen sind ... Sie erschöpft sich nicht in der persönlichen Fürsorge für Benachteiligte, sondern zielt auf den Abbau der strukturellen Ursachen für den Mangel an Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozessen."8

(113) Es müssen also Strukturen geschaffen werden, welche dem einzelnen die verantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben erlauben. Dazu gehört neben den politischen Beteiligungsrechten Zugang zu Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten, die ein menschenwürdiges, mit der Bevölkerungsmehrheit vergleichbares Leben und eine effektive Mitarbeit am Gemeinwohl ermöglichen. Um sich beteiligen zu können und die Möglichkeit zu haben, in der öffentlichen Meinungsbildung gehört und verstanden zu werden, ist außerdem ein Bildungssystem notwendig, das neben beruflichen Fähigkeiten politisches Urteilsvermögen und die Fähigkeit zu politischem Engagement vermittelt.

(114) Bei der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit kommt dem biblischen Ethos eine befreiende und stimulierende Funktion zu. Das biblische Ethos erschöpft sich nämlich nicht in der Forderung nach Gerechtigkeit. Das der menschlichen Person Zukommende und Gebührende ist mehr als Gerechtigkeit, nämlich persönliche Zuwendung, Liebe und Barmherzigkeit. So ist die Barmherzigkeit eine Erfüllung der Gerechtigkeit, die diese zugleich überbietet. Eben deshalb hebt die Barmherzigkeit die Forderungen der Gerechtigkeit nicht auf. Die christliche Barmherzigkeit setzt die Gerechtigkeit vielmehr voraus, und sie muß ihre Authentizität in der Motivation und in der Entschlossenheit zur Gerechtigkeit gegen jedermann, im Kampf gegen ungerechte Strukturen und im Einsatz für den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft erweisen.

 

3.3.4 Solidarität und Subsidiarität

(115) Eine gerechte Gesellschaft baut auf den beiden sich ergänzenden Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität auf. Sie bringen zum Ausdruck, daß der Mensch je einmalige Person und als solche zugleich ein soziales Wesen ist.

(116) Der Begriff Solidarität wird in der Alltagssprache wie im politischen Sprachgebrauch so vielfältig verwendet, daß es nicht einfach ist, ihn eindeutig zu bestimmen und vor Mißbrauch zu schützen. Solidarität meint zunächst die Tatsache menschlicher Verbundenheit und mitmenschlicher Schicksalsgemeinschaft. Wenn Menschen aufgrund von Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder wechselseitigen Abhängigkeiten entdecken, daß sie trotz vielfältiger Unterschiede dennoch ein „wir" bilden, kann aus dieser Tatsache ein Impuls zu solidarischem Handeln entstehen. Denn die Tatsache der Verbundenheit bzw. der Abhängigkeit fordert zu ethischer Gestaltung heraus, und in diesem qualifizierten Sinne ist Solidarität Sache und Ergebnis einer Entscheidung. Menschen, die sich solidarisch verbunden wissen, erkennen und verfolgen gemeinsame Interessen und verzichten auf eigennützige Vorteilssuche, wenn diese zu Lasten Dritter oder der Gemeinschaft geht.

(117) Die Bereitschaft zu solidarischem Handeln soll auch über den unmittelbar überschaubaren zwischenmenschlichen Bereich hinaus die sozialen Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und Kräften prägen. In diesem Sinne versteht die Enzyklika Sollicitudo rei socialis Solidarität als die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das „Gemeinwohl", und das heißt für das Wohl aller und eines jeden einzusetzen. „Diejenigen, die am meisten Einfluß haben, weil sie über eine größere Anzahl von Gütern und Dienstleistungen verfügen, sollen sich verantwortlich für die Schwächsten fühlen und bereit sein, Anteil an ihrem Besitz zu geben. Auf derselben Linie von Solidarität sollten die Schwächsten ihrerseits keine rein passive oder gesellschaftsfeindliche Haltung einnehmen, sondern selbst tun, was ihnen zukommt, wobei sie durchaus auch ihre legitimen Rechte einfordern. Die Gruppen der Mittelschicht ihrerseits sollten nicht in egoistischer Weise auf ihrem Eigenvorteil bestehen, sondern auch die Interessen der anderen beachten". 9

(118) Dieser Maßstab gilt entsprechend auch für die internationalen Beziehungen. Die heutige globale wechselseitige Abhängigkeit muß sich in eine weltweite Solidarität umwandeln, welche die reichen Industrienationen zur Entwicklungshilfe als Hilfe zur Selbsthilfe und zum Abbau von Protektionismus verpflichtet. Die Güter der Schöpfung sind für alle bestimmt. Was menschlicher Fleiß durch Verarbeitung von Rohstoffen und Arbeitsleistung hervorbringt, muß dem Wohl aller in gleicher Weise dienen.

(119) So kommt im Grundsatz der Solidarität ein grundlegendes Prinzip der Gesellschaftsgestaltung zur Geltung. In ihm schlägt sich die Einsicht nieder, daß in der Gesellschaft „alle in einem Boot sitzen" und daß deshalb ein sozial gerechter Ausgleich für das friedliche und gedeihliche Zusammenleben unerläßlich ist. Dies gilt sowohl im Inneren einer Gesellschaft wie auch in dem umfassenderen Horizont der Einen Welt.

(120) Ebenso wie die gleiche Menschenwürde aller die Einrichtung der Gesellschaft nach dem Grundsatz der Solidarität verlangt, fordert sie zugleich dazu heraus, der je einmaligen Würde und damit der Verantwortungsfähigkeit und Verantwortlichkeit einer jeden menschlichen Person Rechnung zu tragen. Deshalb wird der Solidarität das Prinzip der Subsidiarität zur Seite gestellt. Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft ist es, die Verantwortlichkeit der einzelnen und der kleinen Gemeinschaften zu ermöglichen und zu fördern. Die gesellschaftlichen Strukturen müssen daher gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität so gestaltet werden, daß die einzelnen und die kleineren Gemeinschaften den Freiraum haben, sich eigenständig und eigenverantwortlich zu entfalten. Es muß vermieden werden, daß die Gesellschaft, der Staat oder auch die Europäische Union Zuständigkeiten beanspruchen, die von nichtstaatlichen Trägern oder auf einer unteren Ebene des Gemeinwesens ebenso gut oder besser wahrgenommen werden könnten. Auf der anderen Seite müssen die einzelnen wie die kleinen Gemeinschaften aber auch die Hilfe erhalten, die sie zum eigenständigen, selbsthilfe- und gemeinwohlorientierten Handeln befähigt.

(121) Diese doppelte Bedeutung der Subsidiarität ist gerade in der gegenwärtigen Situation in Erinnerung zu rufen. Das Prinzip der Subsidiarität ernstzunehmen bedeutet, Abschied zu nehmen von dem Wunsch nach einem Wohlfahrtsstaat, der in paternalistischer Weise allen Bürgerinnen und Bürgern die Lebensvorsorge abnimmt. Demgegenüber gilt es, Eigenverantwortung und Eigeninitiative zu fördern. Es gilt, in den Betrieben wie in der Gesellschaft die vorhandenen menschlichen Fähigkeiten, Ideen, Initiativen und soziale Phantasie zum Tragen zu bringen und die Erneuerung der Sozialkultur zu fördern. Andererseits entspricht es nicht dem Sinn des Subsidiaritätsprinzips, wenn man es einseitig als Beschränkung staatlicher Zuständigkeit versteht. Geschieht dies, dann werden den einzelnen und den kleineren Gemeinschaften, insbesondere den Familien, Lasten aufgebürdet, die ihre Lebensmöglichkeiten im Vergleich zu anderen Gliedern der Gesellschaft erheblich beschränken. Gerade die Schwächeren brauchen Hilfe zur Selbsthilfe. Solidarität und Subsidiarität gehören also zusammen und bilden gemeinsam ein Kriterienpaar zur Gestaltung der Gesellschaft im Sinne der sozialen Gerechtigkeit.

 

3.3.5 Nachhaltigkeit

(122) Die Solidarität bezieht sich nicht nur auf die gegenwärtige Generation; sie schließt die Verantwortung für die kommenden Generationen ein. Die gegenwärtige Generation darf nicht auf Kosten der Kinder und Kindeskinder wirtschaften, die Ressourcen verbrauchen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft aushöhlen, Schulden machen und die Umwelt belasten. Auch die künftigen Generationen haben das Recht, in einer intakten Umwelt zu leben und deren Ressourcen in Anspruch zu nehmen. Diese Maxime versucht man neuerdings mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit und der Forderung nach einer nachhaltigen, d. h. einer dauerhaften und zukunftsfähigen Entwicklung auszudrücken.

(123) Die Zielperspektive der Nachhaltigkeit schließt vor allem die Verantwortung für die Schöpfung ein. Im biblischen Denken ist diese Dimension der Verantwortung darin begründet, daß der Mensch Geschöpf unter Mitgeschöpfen ist (Gen/1. Mos 1-2; Ps 8; 104). Er ist in eine Schicksalsgemeinschaft mit allen Geschöpfen eingebunden. Es kommt ihm eine besondere Verantwortung für die übrige Schöpfung zu. Er soll die Erde bebauen und bewahren (Gen/1. Mos 2,15), d. h. sie kultivieren und zu einem bewohnbaren Lebensraum gestalten und sie als solchen bewahren. Die besondere Stellung des Menschen begründet kein Recht zu einem willkürlichen und ausbeuterischen Umgang mit der nicht-menschlichen Schöpfung. Vielmehr nimmt sie den Menschen in die Pflicht, als Sachwalter Gottes für die geschöpfliche Welt einzustehen, ihr mit Ehrfurcht zu begegnen und schonend, haushälterisch und bewahrend mit ihr umzugehen.

(124) In manchen biblischen Texten kommt zum Ausdruck, daß Heil oder Unheil der Menschen und Frieden oder Unfrieden zwischen ihnen zugleich Harmonie oder Zerstörung, Frieden oder Unfrieden für Pflanzen und Tiere wie für die gesamte Natur bedeuten. Darauf will schon die Erzählung von der Sintflut und von Gottes Bund mit Noah (Gen/ 1. Mos 6-9) wie die prophetische Vision von einem messianischen Friedensreich (Jes 11,1-9) hindeuten. Nach Paulus liegt die gesamte Schöpfung in Wehen und harrt auf das Offenbarwerden der Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes (Röm 8,20-22). Auch wenn solche biblischen Aussagen kein ökologisches Ethos im modernen Sinn enthalten, so weisen sie doch auf eine umfassende Vernetzung aller Wirklichkeitsbereiche hin. Eine menschliche Gesellschaft kann nur dann zukunftsfähig sein, wenn sie diesem ökologischen Gesamtzusammenhang Rechnung trägt.

(125) Die christliche Soziallehre muß künftig mehr als bisher das Bewußtsein von der Vernetzung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Problematik wecken. Sie muß den Grundgedanken der Bewahrung der Schöpfung mit dem einer Weltgestaltung verbinden, welche der Einbindung aller gesellschaftlichen Prozesse in das - allem menschlichen Tun vorgegebene - umgreifende Netzwerk der Natur Rechnung trägt. Nur so können die Menschen ihrer Verantwortung für die nachfolgenden Generationen gerecht werden. Eben dies will der Leitbegriff einer nachhaltigen, d. h. dauerhaft umweltgerechten Entwicklung zum Ausdruck bringen.

 

4. Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft

(126) Die im vorausgegangenen Abschnitt aus biblischer Botschaft und christlichem Glauben entwickelten ethischen Perspektiven sind die Grundlage für den Beitrag der Kirchen zur Fortentwicklung einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Gesellschaft und Staat. Diese Perspektiven und Maßstäbe sind nicht wirklichkeitsferne Postulate, sondern Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft, die sich nicht durch vermeintliche Sachzwänge oder durch kurzfristige Interessen irre machen läßt. Sie können in der christlich geprägten europäischen Kultur auch von Nichtchristen akzeptiert werden und tragen damit zur Wiedergewinnung des ethischen Grundkonsenses bei, auf den Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen sind. Er droht gegenwärtig verloren zu gehen und muß unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu gefunden werden. Erst ein solcher Grundkonsens ermöglicht eine Verständigung unter den Bürgerinnen und Bürgern über die wichtigsten Perspektiven einer zukunftsfähigen Gesellschaft und eröffnet Wege zur Bewältigung der bedrängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme.

(127) Grundkonsens meint nicht Harmonie, sondern ein ausreichendes Maß an Übereinstimmung trotz verbleibender Gegensätze. Je komplexer die gesellschaftlichen Verhältnisse werden, desto breiter wird das Feld offener Entscheidungen, wo die Meinungen aufeinanderprallen und schließlich Mehrheiten oder oberste Gerichte entscheiden. Zu vielen Fragen gibt es keinen wirklichen Konsens in der Bevölkerung, sondern nur ein Hinnehmen von Kompromissen. Um so wichtiger wird jedoch eine Übereinstimmung über bestimmte Grundelemente der sozialen Ordnung, auf deren Grundlage dann geregelte Verfahren entwickelt werden können, um die unterschiedlichen Überzeugungen und Lagebeurteilungen miteinander zu einem Ausgleich zu bringen und Entscheidungen zu ermöglichen, mit denen alle Beteiligten leben können.

(128) Während früher Gesellschaftsformen nach außen abgegrenzt und aus kleinen Einheiten übersichtlich zusammengesetzt waren, sind moderne Gesellschaften durch das komplexe Zusammenwirken einer Vielzahl institutioneller Teilordnungen unterschiedlicher Reichweite gekennzeichnet, welche verschiedene Leistungen hervorbringen und unterschiedliche Anforderungen an die Handelnden stellen. Hier genügt es nicht mehr, allein das Handeln von Personen einer ethischen Beurteilung zu unterziehen. Zu bedenken sind ebenso die Regeln und Bedingungen, unter denen das Handeln der Individuen sich vollzieht und bestimmte Wirkungen zeitigt. Inwieweit die Würde aller Menschen respektiert wird, wie groß die sozialen Ungleichheiten sind und inwieweit die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt oder ausgebeutet werden, ist nicht nur eine Frage des individuellen guten Willens, sondern vor allem der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse, unter denen Menschen ihr Leben führen. Sie bilden daher den primären Gegenstand einer Besinnung über die Grundlagen einer zukunftsfähigen Gesellschaft.

(129) Die neuzeitlichen Ideen über das menschliche Zusammenleben haben die Möglichkeit eröffnet, daß Menschen mit unterschiedlichen Bekenntnissen, Absichten und Bedürfnissen zum friedlichen Miteinander in Freiheit und Toleranz finden. Auf diesen Ideen beruhen die Leitbilder der offenen, pluralistischen Gesellschaft, des demokratischen Rechts- und Sozialstaates und der auf Freiheit, Wettbewerb und sozialer Verantwortung aufgebauten Sozialen Marktwirtschaft. Sie prägen seit langem die westliche Gesellschaft, werden indes zunehmend auch weltweit bestimmend. So historisch wirkmächtig diese Ideen auch sind, ihre Verwirklichung beruht doch auf ethischen Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewährleisten können. Die Demokratie kann ohne den moralischen Grundkonsens allgemeiner Menschenrechte und ohne Anerkennung der Rechtsordnung nicht gedeihen, und die Marktwirtschaft bleibt auf die Zuverlässigkeit und Rechtschaffenheit der Wirtschaftssubjekte ebenso angewiesen wie auf die nicht ökonomisch zu organisierende Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Zudem bedürfen auch freie Menschen nicht nur politischer Rechte und wirtschaftlicher Güter, sondern vor allem der Möglichkeiten, ihr Leben eigenverantwortlich und sinnvoll zu gestalten, Mitmenschlichkeit zu gewähren und zu erfahren sowie in ihren persönlichen Qualitäten anerkannt zu werden. Das ökonomische Denken tendiert dazu, das menschliche Leben auf die ökonomische Dimension einzuengen und so die kulturellen und sozialen Zusammenhänge menschlichen Lebens zu vernachlässigen. Die sozialethischen Traditionen der christlichen Kirchen betonen demgegenüber das Ganze, die unverrechenbare Einheit menschlicher Lebenshoffnungen und die Vielfältigkeit der menschlichen Rechte und Pflichten.

 

4.1 Menschenrechte

(130) Nach christlichem Verständnis sind die Menschenrechte Ausdruck der Würde, die allen Menschen auf Grund ihrer Gottebenbildlichkeit zukommt. Die Anerkennung von Menschenrechten bedeutet gleichzeitig die Anerkennung der Pflicht, auch für das Recht der Mitmenschen einzutreten und deren Rechte als Grenze der eigenen Handlungsfreiheit anzuerkennen. Von der Verwirklichung der Menschenrechte kann nur dann gesprochen werden, wenn die staatliche Rechtsordnung die elementaren Rechte jedes Menschen unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Herkunft oder seinen individuellen Merkmalen schützt und diese Ordnung von allen Beteiligten anerkannt wird. Die Pflicht zur Anerkennung und zum Einsatz für die Menschenrechte endet jedoch nicht an den Staatsgrenzen. Eine die Idee der Menschenrechte verwirklichende Gesellschaftsordnung wird erst erreicht sein, wenn diese Rechte weltweit anerkannt und geschützt werden. Davon sind wir noch weit entfernt.

(131) Die „Entdeckungsgeschichte" der Menschenrechte zeigt, daß sie stets in Reaktion auf elementare Unrechts- und Leiderfahrungen formuliert worden sind. Wo Menschen für die Leiden ihrer Mitmenschen wahrnehmungsfähig werden, beginnen sie zu fragen, auf welchen strukturellen Voraussetzungen solches Leid beruht und ob man ihm durch die Umgestaltung derjenigen sozialen und politischen Verhältnisse, die dieses Leid erzeugen oder begünstigen, abhelfen kann. Weil die Bedeutung menschenrechtlicher Sicherungen erst dann voll erfaßbar wird, wenn man die Konsequenzen ihrer Beeinträchtigung erfährt, sind menschenrechtliche Mindestanforderungen stets verbesserungsbedürftig. Der geschichtliche Entwicklungsprozeß macht eine kontinuierliche Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes notwendig.

(132) Dabei haben sich vor allem drei Arten von Menschenrechten herauskristallisiert:

  • zum einen individuelle Freiheitsrechte, die den Schutz gegen Eingriffe Dritter oder des Staates in den Bereich persönlicher Freiheit gewährleisten: Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit; Recht auf faire Gerichtsverfahren; Schutz der Privatsphäre und von Ehe und Familie; Freiheit der Berufstätigkeit und Freizügigkeit;
  • zum anderen politische Mitwirkungsrechte, die Möglichkeiten eröffnen, selbst auf das öffentliche Leben Einfluß zu nehmen: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, aktives und passives Wahlrecht, Pressefreiheit;
  • schließlich wirtschaftlich-soziale und kulturelle Grundrechte, die den Anspruch auf Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft begründen und Chancen menschlicher Entfaltung sichern: Recht auf Bildung und Teilnahme am kulturellen Leben, Recht auf Arbeit und auf faire Arbeitsbedingungen, Recht auf Eigentum, Recht auf soziale Sicherung und Gesundheitsversorgung, auf Wohnung, Erholung und Freizeit.

Die Gewährleistung dieser drei Arten von Rechten ist von unterschiedlichen Bedingungen abhängig. Umstritten ist insbesondere, inwieweit die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Anspruchsrechte durch staatliche Maßnahmen gewährleistet werden können und sollen. Auf jeden Fall haben die Staaten die Verpflichtung, sich für die Realisierung dieser Rechte einzusetzen.

(133) Die Wahrnehmung der individuellen Grundrechte (z. B. Freiheit der Berufswahl) wird in vielen Fällen erst möglich durch soziale Teilhabechancen (z. B. öffentliche Bildung). Die für eine dynamische Wirtschaft und Gesellschaft nötige individuelle Lern-, Anpassungs-, Mobilitäts- und Wagnisbereitschaft wird durch eine Absicherung gegen elementare Lebensrisiken gefördert. Die Einrichtungen des Sozialstaates, die soziale Sicherung und das öffentliche Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen haben sich daher zu einem konstitutiven Element der westlichen Gesellschaftsordnung entwickelt. Ihnen wird ein eigenständiger moralischer Wert zugesprochen, da sie das solidarische Eintreten für sozial gerechte Teilhabe aller an den Lebensmöglichkeiten verkörpern. Der Sozialstaat darf deshalb nicht als ein nachgeordnetes und je nach Zweckmäßigkeit beliebig zu „verschlankendes" Anhängsel der Marktwirtschaft betrachtet werden. Er hat vielmehr einen eigenständigen moralischen Wert und verkörpert Ansprüche der verantwortlichen Gesellschaft und ihrer zu gemeinsamer Solidarität bereiten Bürgerinnen und Bürger an die Gestaltung des ökonomischen Systems. Dessen dauerhafte Leistungsfähigkeit und wachsender Ertrag sind wiederum Voraussetzungen dafür, daß die Einrichtungen des Sozialstaats finanzierbar bleiben.

(134) Die Verwirklichung der Grundsätze von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit gelingt in der Praxis meist nur mit Einschränkungen. Nicht alle Bevölkerungsgruppen vermögen sich gleichermaßen zu organisieren und ihre Anliegen in die politischen Prozesse einzubringen. Nicht alle haben den gleichen Zugang zu Informationen. Dadurch entstehen dauerhafte Unterschiede der politischen und wirtschaftlichen Machtverteilung. Es sind vor allem Arbeitslose, Arme, Familien, Ausländer und Jugendliche sowie die mehrfach Benachteiligten, die es schwerer haben als andere, ihre Rechte im Rahmen eines immer komplizierter werdenden Rechtssystems einzufordern. Ohne kompetente Rechtsberatung und -vertretung vor Behörden und Gerichten, oft aber auch schon im Verhältnis zu anderen Privatpersonen lassen sich die durch die Rechtsordnung eingeräumten Chancen nicht wahrnehmen. Selbst im Bereich der sozialen Einrichtungen ist keineswegs gewährleistet, daß deren Leistungen in erster Linie den Bedürftigsten zukommen. Auch hier erreichen diejenigen mehr, die ihre Interessen wirksam zur Geltung zu bringen vermögen.

(135) Die christliche Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten besteht gegenüber diesen Tendenzen auf der Pflicht der Starken, sich der Rechte der Schwachen anzunehmen. Dies liegt auch im langfristigen Interesse des Gemeinwesens und damit auch der Starken. Eine Gesellschaft, welche die nachwachsende Generation und deren Eltern vernachlässigt, stellt ihre eigene Zukunft aufs Spiel. Wer Arbeitslose und Ausländer ausgrenzt, verzichtet auf die Inanspruchnahme ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen. Und wenn chronisch Kranken und Behinderten kein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird, werden damit elementare Maßstäbe des Zusammenlebens in der Gesellschaft in Frage gestellt.

 

4.2 Freiheitlich-soziale Demokratie

(136) Aus den anerkannten und geschützten Menschenrechten folgen Leitbilder für die staatliche Ordnung, die sich das deutsche Volk „in Verantwortung vor Gott und den Menschen" (Präambel des Grundgesetzes) gegeben hat. Danach sind Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Föderalismus die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien. Sie finden im deutschen Grundgesetz ihren Ausdruck in den Artikeln 1 bis 20, die den Kern der Verfassung ausmachen. In Artikel 1 werden der Grundsatz der Menschenwürde und das Bekenntnis „zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" festgeschrieben.

(137) Das Verständnis der Bundesrepublik Deutschland als freiheitlich-soziale Demokratie bildet unverändert die Grundlage für einen dauerhaften Grundkonsens. Demokratie ist dabei als eine Form staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Integration zu verstehen, in der soziale Konflikte in gewaltfrei geregelten, öffentlichen Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ausgetragen werden. Wesentlich für die Demokratie ist daher die - zum Teil repräsentativ vermittelte - Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Regelung aller sie betreffenden Angelegenheiten. Die Kennzeichnung der Demokratie als „soziale" betont, daß diese Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger nicht nur formal durch den Rechtsstaat, sondern auch materiell durch den Sozialstaat gesichert werden muß. Als „freiheitlich" gilt die Demokratie auch dann, wenn sie um der Freiheit aller willen relative Ungleichheiten hinnimmt, solange diese nicht zur Basis für politische Unterdrückung und Ausbeutung werden.

(138) In der Demokratie ist die Öffentlichkeit das Forum der politischen Willensbildung. Das Streben nach Einmütigkeit und Eindeutigkeit und das menschliche Verlangen nach Harmonie stehen in Spannung zu Vielfalt, Freiheit und Wettbewerb der Meinungen und dem damit notwendig verbundenen politischen Streit. Ihm muß um der Freiheit willen Raum gegeben werden. Die Demokratie braucht das Forum einer breiten und informierten Öffentlichkeit, die den Einfluß der Parteien kritisch begleitet und begrenzt. Längst ist die Rolle der öffentlichen Medien wegen ihrer großen Bedeutung für die politische Willensbildung und Kultur umstritten und umkämpft. Sie können Institutionen wachsamer Kontrolle der Machtausübung, sie können aber auch einflußreiche Instrumente der Manipulation sein. Ihre innere und äußere Freiheit und Unabhängigkeit sowie ihre Vielfalt zu gewährleisten ist deshalb ein konkretes Gebot für die freiheitliche Demokratie. Auch in der öffentlichen Meinung ist Vielstimmigkeit und Pluralität eine Grundbedingung für den demokratischen Prozeß.

(139) Für den Staat bedeutet der Wert „Freiheit" nicht nur eine Begrenzung seiner Einflußmöglichkeiten und Eingriffsrechte. Die Verpflichtung aller Beteiligten, in den Arbeitsbeziehungen die Würde des anderen zu achten, erfordert staatliche Gesetze und tarifvertragliche Vereinbarungen zum Arbeitsschutz. Die unternehmerische Freiheit erfordert staatliche Regelungen zum Schutz des Wettbewerbs. Die Freiheit der Verbraucher („Konsumentensouveränität") erfordert angesichts asymmetrischer Informationsverteilung und der Möglichkeit psychischer Beeinflussung durch Werbung staatliche Gesetze zum Verbraucherschutz und Maßnahmen zur Verbraucheraufklärung. Eine Gesellschaft, die Freiheit als „gebundene Freiheit" versteht und die Würde des anderen auch in den Marktbeziehungen achtet, wird dieses Freiheitsverständnis durch umfassende Rahmenbedingungen zum Ausdruck bringen.

(140) Gegenwärtig wird der Staat zunehmend mit der Erwartung konfrontiert, die Gesamtsteuerung der gesellschaftlichen Entwicklung zu übernehmen, wobei der hierzu erforderliche Sachverstand und die notwendige Unterstützung von Verfahren der öffentlichen Meinungsbildung und Konfliktaustragung erwartet werden. Dabei wird unterstellt, daß in diesen Verfahren alle zu berücksichtigenden Interessen zur Geltung kommen und sich die überzeugendsten Argumente durchsetzen. Diesem Ziel entspricht die politische Wirklichkeit ebensowenig wie die wirtschaftliche Wirklichkeit dem Ideal des vollkommenen Wettbewerbs. Die Schwerfälligkeit von Gesetzgebungsprozessen, das bürokratische Eigeninteresse von Verwaltungen, die ungleichen Chancen der Bürgerinnen und Bürger, sich politisch und rechtlich Gehör zu verschaffen, aber auch die oft ungenügende Absehbarkeit der Folgen bestimmter politischer Entscheidungen sind offensichtliche Grenzen demokratisch legitimierter Regierungen.

(141) Regionale und lokale Unterschiede können auf gesamtstaatlicher Ebene nur ungenügend berücksichtigt werden. Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung sollen dem nach dem Willen des Grundgesetzes in Deutschland entgegenwirken. Dadurch entstehen jedoch zusätzliche Schwierigkeiten in politischen Verfahren, sobald die Interessen der verschiedenen Entscheidungsebenen miteinander verflochten sind. Nicht nur wegen dieser Schwierigkeiten, sondern mehr noch aus dem Verständnis der Subsidiarität staatlichen Handelns und angesichts der Gefahr einer bürokratischen Fehlentwicklung des Staates ist die Erwartung einer umfassenden staatlichen Steuerung gesellschaftlicher Prozesse kritisch zu befragen. Jedenfalls in der deutschen und der europäischen Perspektive kann es angesichts der bestehenden Regelungsdichte nicht darum gehen, diese noch zu steigern. Vielmehr ist es nötig, die Kräfte der gesellschaftlichen Selbststeuerung und Selbstverwaltung zu stärken.

 

4.3 Ökologisch-soziale Marktwirtschaft

(142) Marktwirtschaftliche Ordnungsprinzipien sind ein unverzichtbares Element bürgerlicher Freiheit und die Bedingung innovativen unternehmerischen Handelns. Ihnen verdanken moderne Gesellschaften eine effiziente Versorgung, ihren technischen Fortschritt und ihr Wirtschaftswachstum, aber auch einen Teil ihrer Probleme. Kein anderes gesellschaftliches Ordnungsprinzip vermag derzeit besser den ökonomischen Ressourceneinsatz und die Befriedigung der Konsumentenwünsche zu gewährleisten als ein funktionierender Wettbewerb. Unternehmer, die sich mit ihrem Kapitaleinsatz und ihrer Entscheidungsfreudigkeit den Risiken des Wettbewerbs aussetzen und dabei Arbeitsplätze und Güter schaffen, verdienen auch unter ethischen Gesichtspunkten hohe Anerkennung. Allerdings stellen sich optimale Wettbewerbsbedingungen nicht von selbst ein, sie sind vielmehr von staatlichen Rahmensetzungen abhängig. Unternehmen neigen dazu, sich dem Druck des Wettbewerbs durch Zusammenschlüsse oder andere Formen der Marktmacht, beispielsweise Kartellbildung, zu entziehen. Dem ist mit einer Wettbewerbsordnung entgegenzuwirken. Bedingung dafür, daß Wettbewerb zu leistungs- und bedarfsgerechten Ergebnissen führt, ist ein Marktgleichgewicht zwischen Anbietern und Nachfragern. Wo dieses strukturell fehlt, wie z. B. bei Arbeitsuchenden unter den Bedingungen eines Defizits an wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen oder bei Einzelkonsumenten im Verhältnis zu marktbeherrschenden Großunternehmen, läßt es sich durch den Markt selbst nicht herstellen. Hierzu bedarf es entweder staatlicher Rahmenbedingungen (Arbeitsschutz, Konsumentenschutz) oder solidarischer Selbstorganisation (Gewerkschaften, Konsumentenverbände). Zudem vermag die Marktwirtschaft das Problem des Lebensunterhalts derjenigen nicht zu lösen, die keine Erwerbsarbeit übernehmen können.

(143) Das Grundgesetz hat die Frage nach der Wirtschaftsordnung zwar offen gelassen. Jedoch wurde ein Grundkonsens darüber erzielt, daß nur eine „bewußt sozial gesteuerte Marktwirtschaft" (A. Müller-Armack), deren Konzept wesentlich von der Sozialethik der Kirchen beeinflußt wurde, in Betracht kommen kann. Hierunter wird eine staatlich gewährleistete Wirtschaftsordnung verstanden, die auf den Prinzipien eines in seinem Gebrauch dem Wohle der Allgemeinheit verpflichteten Privateigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), eines funktionierenden Wettbewerbs und der sozialstaatlichen Absicherung der Einkommen der Nicht-Erwerbstätigen beruht. Zu den Institutionen, die diese Prinzipien gewährleisten sollen, gehören u. a. die Betriebs- und Unternehmensverfassung einschließlich der Mitbestimmung der Arbeitnehmer, das System der Tarifautonomie, die Arbeitsschutzgesetzgebung, ein System sozialer Sicherung, freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl, das Recht auf Eigentum und seine Sozialpflichtigkeit, Wettbewerbsschutz, Arbeits- und Wohnungsmarktpolitik. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft stellt einen produktiven Kompromiß zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialem Ausgleich dar. Als „sozial" gilt sie, weil sie auf Dauer einen sozial gerechten Ausgleich und die Beteiligung und Teilhabe eines jeden Menschen - auch des Nicht-Erwerbstätigen - nach seinem Vermögen an dem gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben zum Ziel hat. Gleichzeitig wird die Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen in die gemeinsame Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestellt. Wesentlich für das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft ist, daß wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Ausgleich als gleichrangige Ziele und jeweils der eine Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des anderen begriffen werden. In Westdeutschland war die marktwirtschaftliche Effizienz gemeinsam mit dem sozialen Ausgleich zwischen den sozialen Gruppen und Schichten bisher Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges, der einen Ausbau der sozialstaatlichen Einrichtungen auf einem im internationalen Vergleich hohen Niveau ermöglichte. Die Verteilung der Zuwächse des Sozialprodukts wurde - auch wenn im Streit errungen - allgemein als gerecht empfunden, ebenso das sich einspielende Kräftegleichgewicht zwischen den Tarifparteien und die Schaffung von Wirtschaftsbürgerrechten (Mitbestimmungsrechten) in der Betriebs- und Unternehmensverfassung.

(144) In den neuen Bundesländern gingen mit der schockartigen Umstellung von einer Zentralverwaltungswirtschaft, die eine zerrüttete Infrastruktur, einen Berg von Altschulden und international nicht wettbewerbsfähige Betriebe hinterlassen hatte, auf marktwirtschaftliche Bedingungen eine extrem hohe Arbeitslosigkeit und eine schnelle, bis dahin unbekannte Einkommens- und Vermögensdifferenzierung einher. Aufgrund dieser Entwicklung, der oft schmerzlichen Rückgabe von Häusern, Grundstücken und Unternehmen an die früheren Eigentümer und oft auch unlauterer Geschäftspraktiken empfinden viele Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer die neue Wirtschaftsordnung als sozial nicht gerecht. Das Konzept Soziale Marktwirtschaft hat dadurch für viele an Vertrauen verloren.

(145) Es ist aber kein Wirtschaftssystem in Sicht, das die komplexe Aufgabe, die Menschen materiell zu versorgen und sie sozial abzusichern, ebenso effizient organisieren könnte wie die Soziale Marktwirtschaft. Gleichwohl ist eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den gegen sie vorgebrachten kritischen Einwendungen unerläßlich. Die Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft im Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte auf mindestens vier Voraussetzungen, die heute in dieser Form nicht mehr gegeben sind:

  • Der die Vollbeschäftigung gewährleistende Kreislauf von wachsenden Unternehmenserträgen, produktivitätssteigernden Investitionen, steigenden Löhnen und wachsender Massenkaufkraft funktioniert nicht mehr wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. Weil damit zugleich die Konvergenz von wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Ausgleich problematisch zu werden droht, wird die Gleichrangigkeit dieser beiden Ziele mittlerweile häufig bestritten. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit hat sich zu Lasten des Faktors Arbeit verschoben; das Gewicht der Kapitaleinkommen nimmt gegenüber den Arbeitseinkommen zu.
  • Die Sozialordnung zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland ging noch von einer Familienstruktur aus, in der nur ein Partner erwerbstätig ist. Dementsprechend wurde dauerhafte Vollzeiterwerbstätigkeit nur für das männliche Geschlecht vorausgesetzt, wobei der Lohn zum Unterhalt einer Familie mit zwei Kindern ausreichen sollte. Die wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften seit den 60er Jahren hat in Verbindung mit der zunehmenden Qualifizierung der Frauen zu einem tiefgreifenden Einstellungswandel geführt, welcher für die meisten jungen Frauen die Verbindung von Familien- und Erwerbstätigkeit zu einem neuen Leitbild hat werden lassen.
  • Die Soziale Marktwirtschaft im Westen Deutschlands war in starkem Maße nationalstaatlich geprägt. Der Prozeß der Globalisierung erschwert nun jedoch solche nationalstaatlich geprägten Marktwirtschaften, die auf eine starke Kooperation und Integration von Ökonomie, Sozialsystem und Kultur abheben. Je größer die Räume des freien Handels und je ungebundener die Handlungsmöglichkeiten der transnationalen Unternehmen werden, desto stärker wird das Ordnungsmodell Soziale Marktwirtschaft gefährdet. Die stabilisierenden Möglichkeiten des Staates nehmen dabei deutlich ab.
  • Das extensive Wachstum der Volkswirtschaft hat zu einer Erhöhung des Energieverbrauchs und der Umweltbelastungen geführt, welche gerade in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland die Lebensqualität zu verschlechtern drohen. Erst in den 70er Jahren wurde allgemein bewußt, daß das allseits erwünschte Wirtschaftswachstum mit einer zu hohen Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen und einer überhöhten Belastung der Umwelt durch Schadstoffe erkauft worden ist.

(146) Für diese neuen Herausforderungen vermag ein Modell „Marktwirtschaft pur" keine zureichenden Antworten zu bieten. Mit einer Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung würden die demokratische Entwicklung, die soziale Stabilität, der innere Friede und das im Grundgesetz verankerte Ziel der sozialen Gerechtigkeit gefährdet werden. Zudem wäre es gesamtwirtschaftlich fatal, wenn vernachlässigt würde, daß einzelwirtschaftliche Aktivitäten auf unentgeltlich erbrachte gesamtgesellschaftliche „Vorleistungen" (z. B. Lernbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, Bereitschaft zur Betriebsloyalität) sowie auf kaufkräftige Nachfrage und langfristige Sparbereitschaft angewiesen sind. Deshalb ist die Vorstellung, die anstehenden Probleme ließen sich durch eine bloße Anpassung an internationale Wettbewerbsbedingungen und allein schon durch eine Senkung der Lohnkosten lösen, realitätsfern. Ebensowenig freilich reicht es aus, an allem Bestehenden festzuhalten und jeden sozialen Besitzstand zu verteidigen.

(147) In der Zukunft kann der soziale Ausgleich nicht mehr in gleicher Weise wie bisher aus den Zuwächsen des Volkseinkommens bestritten werden. Die Flexibilisierung der Produktionsbedingungen und die Notwendigkeit der sozialen Absicherung derer, die durch die wirtschaftlichen Veränderungen aus dem Arbeitsleben gedrängt werden, haben Folgen für die sozialen Besitzstände. Zu den veränderten Bedingungen gehören außerdem die Pluralisierung der Lebensstile sowie der berechtigte Anspruch der Frauen, Erwerbsarbeit und Familienarbeit gerechter zwischen den Geschlechtern zu verteilen. Die regionalen Folgen der weltwirtschaftlichen Vernetzungen fordern überdies eine den Globalisierungstendenzen Rechnung tragende Ausdehnung der wirtschaftspolitischen Verantwortung.

(148) Schließlich machen die wachsenden Umweltbelastungen eine ökologische Umgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft erforderlich. Jenseits der tagespolitischen Auseinandersetzung um Tempo und Wege einer solchen ökologischen Erneuerung besteht über deren Notwendigkeit überwiegend Einigkeit. Die deutsche Gesellschaft kann nur dann den Erfordernissen nachhaltiger Entwicklung gerecht werden, wenn es ihr gelingt, sich in ihrem natürlichen Handlungsrahmen so einzurichten, daß die berechtigten Interessen der kommenden Generationen und der Menschen auf anderen Kontinenten nicht verletzt werden. So wie die historische Erfahrung gezeigt hat, daß sich eine gerechte soziale Verteilung nicht von alleine aus der Dynamik des Marktes ergibt, dieser vielmehr durch eine soziale Rahmenordnung ergänzt werden muß, so ist auch die Bewältigung der ökologischen Problemfelder nicht aus der inhärenten Dynamik der Sozialen Marktwirtschaft zu leisten. Ging es in der „sozialen Frage" letztlich um ein Verteilungsproblem, so weist die „ökologische Frage" auf den Gesamtrahmen des zu Verteilenden hin. Die bisherigen Ziele der Marktwirtschaft müssen sich in Zukunft vor allem daran messen lassen, ob sie auch den nächsten Generationen eine lebenswerte Zukunft ermöglichen. Dies erfordert, daß Umweltqualitätsziele, also die ökologische Komponente, als ein eigenständiger Zielfaktor der wirtschaftlichen Entwicklung beachtet werden. Mit einer ökologischen Nachbesserung des Modells der Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht getan. Notwendig ist vielmehr eine Strukturreform zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft insgesamt.

(149) Für die Gestaltung der Ordnung einer modernen Gesellschaft sind die folgenden Elemente in gleicher Weise unverzichtbar und von eigenständiger Bedeutung:

  • persönliche Verantwortung und unternehmerische Initiative,
  • der Markt als ein effektives Mittel, um durch leistungsgerechte Entgelte und Gewinne Wohlstand zu schaffen,
  • eine soziale Rahmenordnung, die unter Beachtung der Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität die Bevölkerung im Blick auf die elementaren Lebensrisiken sichert und für sozialen Ausgleich sowie Chancengerechtigkeit sorgt,
  • ein Steuersystem, das der Finanzierung der erforderlichen Infrastruktur und Staatsaufgaben, der Förderung von Wachstum und Beschäftigung und einer sozial gerechten und ausgewogenen Verteilung dient,
  • die Erhaltung der Stabilität der Währung,
  • die Beachtung neuer internationaler Herausforderungen und ihre verantwortliche Gestaltung,
  • die Rückbindung des sozioökonomischen Systems an die Regenerationsraten und Zeitrhythmen der ökologischen Systeme und schließlich
  • solidarisches Verhalten als Voraussetzung von Wertbindung, Vertrauen und Loyalität.

(150) Aus dieser Perspektive zeigt sich auch das weithin akzeptierte Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland in einem anderen Licht. Häufig wird darunter eine Anhebung des Produktions-, Konsum- und Infrastrukturniveaus in den neuen Bundesländern auf „Weststandard" verstanden. Das Grundgesetz aber meint mit dem Ziel der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" die Überwindung von Benachteiligungen von Regionen und die Herstellung von Chancengerechtigkeit. In Deutschland soll es keine benachteiligten Gebiete geben. Es geht darum, daß sich beide Teile Deutschlands im Prozeß des Zusammenwachsens deutlich umorientieren müssen, um den Erfordernissen einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu entsprechen.

 

4.4 Menschenrecht auf Arbeit und neues Arbeitsverständnis

(151) Auch in Zukunft wird die Gesellschaft dadurch geprägt sein, daß die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen den bei weitem wichtigsten Zugang zu eigener Lebensvorsorge und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben schafft. In einer solchen Gesellschaft wird der Anspruch der Menschen auf Lebens-, Entfaltungs- und Beteiligungschancen zu einem Menschenrecht auf Arbeit. Wenngleich dieses ethisch begründete Anrecht auf Erwerbsarbeit nicht zu einem individuell einklagbaren Anspruch werden kann, verpflichtet es die Träger der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Tarif- und Sozialpolitik, größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu gewährleisten. Dabei geht es um mehr als entlohnte Beschäftigung. Vielmehr muß die Entlohnung in Verbindung mit den staatlichen Steuern, Abgaben und Transfers auch ein den kulturellen Standards gemäßes Leben ermöglichen. Zudem müssen Mitbestimmungsregelungen und humane Arbeitsbedingungen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern persönliche Entfaltungs- und Beteiligungschancen einräumen.

(152) Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen. Menschliche Arbeit ist nicht notwendigerweise Erwerbsarbeit. Unter dem Einfluß der Industrialisierung hat sich das Leitbild von Arbeit allerdings auf Erwerbsarbeit verengt. Je mehr jedoch die mit dem technischen Fortschritt einhergehende Steigerung der Arbeitsproduktivität ein Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Verringerung der Arbeitsplätze ermöglicht, desto fragwürdiger wird die Verengung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit. Deshalb kann die Gesellschaft dadurch humaner und zukunftsfähiger werden, daß auch unabhängig von der Erwerbsarbeit die Chancen für einen gesicherten Lebensunterhalt, für soziale Kontakte und persönliche Entfaltung erhöht werden. Insbesondere muß das System der sozialen Sicherheit darauf eingestellt werden, daß der Anteil kontinuierlicher Erwerbsbiographien abnimmt und daß mit der Pluralisierung der Lebensstile immer mehr Menschen zwischen Phasen der ganztägigen Erwerbsarbeit, des Teilzeiterwerbs und der Haus- und Familienarbeit wechseln.

(153) Eine Soziale Marktwirtschaft ist heute nicht mehr durch „Normalarbeitsverhältnisse" der Männer und eine nur indirekte materielle Versorgung und Absicherung der Frauen und Kinder zu verwirklichen. Jenseits konkreter Verteilungskonflikte zwischen den Geschlechtern steht die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bevölkerung heute nicht mehr in Frage. Wesentlich für die Gleichstellung ist, daß in Zukunft die Frauen einen gerechten Anteil an der Erwerbsarbeit erhalten und die Männer einen gerechten Anteil an der Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit übernehmen. Dieses Ziel wird nur schrittweise zu erreichen sein. Um so notwendiger ist es, die Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit und den ehrenamtlichen Dienst gesellschaftlich aufzuwerten und Benachteiligungen, z. B. bei den sozialen Sicherungssystemen, im Maße des finanziell Machbaren abzubauen.

(154) Leistungsansprüche, Zeitdruck und kurzfristiges Effizienzdenken sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Das hat Folgen für die Arbeitsbedingungen in zahlreichen Tätigkeitsfeldern. Zugleich steigen die Ansprüche an das Privatleben als Gegenwelt und flexible Ergänzung der Erwerbsarbeit. Die Lebensqualität vieler Beschäftigter wird beeinträchtigt. Stärker noch werden die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten derer eingeschränkt, die in der schnellebigen Gesellschaft nicht mithalten können. Um so wichtiger erscheint angesichts dieser Entwicklung das Ziel, die Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt kinder- und familienfreundlicher zu gestalten. Neben einer Verbesserung der Einkommen von Familien geht es hier u. a. um eine Erhöhung der Zeitsouveränität der Beschäftigten und um die kindergerechte Gestaltung städtischer und ländlicher Lebensräume sowie um die Bereitstellung bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnraums für Familien mit Kindern durch wohnungspolitische Maßnahmen.

(155) Wenn die Volkswirtschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr in der Lage ist, alle erwerbsbereiten Menschen zu beschäftigen, und gleichzeitig eine Auszehrung der unentgeltlichen und im Gemeinwohlinteresse unerläßlichen Tätigkeiten droht, so stellt sich der Politik einschließlich der Tarifpolitik die Aufgabe, hier entschieden gegenzusteuern. Sonst führt dies zu einer Vergeudung menschlicher Fähigkeiten und zu einem Verlust an Humanität in der Gesellschaft. Es geht einerseits um eine stärkere politische und soziale Anerkennung der Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit als einem unersetzlichen Beitrag für die Gesellschaft. Und es geht andererseits um eine Hilfe beim Tragen der Lasten, welche Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen mit der Übernahme familialer Verantwortung auf sich nehmen. Es gibt nicht nur eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums, sondern auch eine Sozialpflicht des einzelnen.

 

4.5 Chancen und Formen der Solidarität in einer erneuerten Sozialkultur

(156) Die bisherigen öffentlichen Diskussionen orientieren sich fast ausschließlich am Spannungsverhältnis von Marktwirtschaft und Sozialstaat. Vielfach schwingt dabei auch noch der ordnungspolitische Antagonismus „Planwirtschaft" versus „Marktwirtschaft" aus der Zeit des Kalten Krieges nach. Wenn Märkte an ihre Grenzen stoßen, sucht man das Heil beim Staat. Versagt der Staat, so fordert man mehr Markt, Privatisierungen und Deregulierungen. Über diesem Dualismus droht in Vergessenheit zu geraten, daß gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, die weder dem Staat noch dem Bereich des Marktes zuzuordnen sind, einen eigenständigen Beitrag zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt leisten. Hierzu gehören in erster Linie die Familien (Haushalte und Verwandtennetze), aber auch die gemeinnützigen Einrichtungen, Formen assoziativer Selbsthilfe - beispielsweise in Kirchen, Gewerkschaften oder Vereinen - und Formen wechselseitiger Hilfe - etwa im Bereich von Nachbarschaften oder sonstigen Bekanntschaftsbeziehungen. Das gemeinsame Moment dieser unterschiedlichen Formen der Förderung des Gemeinwohls besteht in der ihnen zugrundeliegenden Solidarität der Beteiligten.

(157) In den letzten 30 Jahren hat die allgemeine Erhöhung des Wohlstands, des Bildungsniveaus und der sozialen Sicherheit den Prozeß der Individualisierung beschleunigt: Das Leben des einzelnen wurde optionsreicher, traditionelle Milieubindungen lockerten sich, durch eigene Wahl eingegangene Verpflichtungen traten z. T. an die Stelle vorgegebener Normen. Auch wenn dadurch das Bewußtsein, solidarisch miteinander verbunden zu sein, weniger selbstverständlich geworden ist, kann diese Entwicklung nicht von vornherein mit Vereinzelung und Entsolidarisierung gleichgesetzt werden. Vielmehr wandelt sich die Art und Weise, in der Solidarität eingeübt und gelebt wird. An die Stelle herkömmlicher Formen der Solidarität tritt zunehmend die freiwillige solidarische Einbindung in Gruppen, die häufig durch gemeinsames Engagement für eine gemeinsame Sache neu entstehen.

(158) Diese gemeinsame Sache bezieht sich auch auf neue Wertvorstellungen. Frauen und Männer suchen heute vielfach Lebensziele gleichzeitig zu verwirklichen, die sich früher auszuschließen schienen. Sie möchten Erwerbsarbeit und Ehrenamt, Familie und Beruf, persönlichen Freiraum und politisches Engagement miteinander verbinden. Ihnen geht es darum, sich als kreative und unkonventionelle Persönlichkeiten selbst zu entfalten und in einer Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen global denken und lokal handeln. Zudem haben sich auch neue Wertorientierungen gesellschaftlich verbreitet - z. B. für das Umwelt- und das Geschlechterverhältnis. Gemeinsam ist vielen dieser neuen Wertorientierungen eine Ausweitung des Solidaritätsverständnisses. Gefährdungen und Risiken, die in Reichweite und Wirkungsgrad grenzenlos geworden sind, betreffen prinzipiell alle und fordern daher auch ein Bewußtsein globaler Verbundenheit. Diese Universalisierung der Solidarität unterscheidet sich von älteren und eingeschränkteren Formen der Solidarität. Christen vermögen darin durchaus das Erbe des christlichen Universalitätsanspruchs von Menschenwürde und Menschenrechten zu erkennen. In der öffentlichen Diskussion werden diese neuen Solidaritäten häufig übersehen und nur die Entsolidarisierung und der Abbau des Gemeinsinns beklagt. Der Rückgang überlieferter Formen der Solidarität ist nicht zuletzt unter den Jüngeren mit höherer Bildung häufig durch eine Zunahme von sozialem, politischem und kulturellem Engagement ersetzt worden, das stärker als früher unter dem Gesichtspunkt der Bereicherung an Lebenserfahrung und inhaltlicher Befriedigung durch soziale Kommunikation betrachtet wird.

(159) So haben im Westen Deutschlands in den letzten 25 Jahren Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, Wohlfahrtsverbände und andere Nichtregierungsorganisationen die Debatten in der politischen Öffentlichkeit belebt und damit Wege zu einer Neuorientierung staatlichen Handelns geöffnet. In Ostdeutschland war die friedliche Revolution nur möglich, weil gesellschaftliche, vielfach kirchlich gebundene Gruppen gegen den totalitären Staat aufbegehrten und an den Runden Tischen der Wendezeit eine demokratische Kultur entwickelten, in der die Beteiligten solidarisch und kooperativ nach neuen Wegen suchten. In Ost und West klagen entwicklungspolitische Gruppen mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit ein, daß solidarische Verantwortung universell und nicht teilbar ist. Arbeitsloseninitiativen spüren gesellschaftlich sinnvolle Arbeiten auf, die sonst ungetan blieben. Kirchengemeinden, kirchliche Gruppen und Verbände führen Solidaritätsaktionen durch. Ad hoc gebildete Bürgerkomitees organisieren Lichterketten, in denen sich die Solidarität der deutschen Bevölkerungsmehrheit mit bedrohten Ausländern ausdrückt. Gruppen der Umwelt- und Frauenbewegung haben über ihr politisches Engagement hinaus auch neue Lebensstile und exemplarische Formen solidarischer Gemeinschaft erprobt. Zudem sind Tausende neuer Selbsthilfegruppen entstanden. Kirchengemeinden, kirchliche Einrichtungen, Organisationen und Initiativen haben sich an diesen Suchprozessen beteiligt und neue Formen des ehren- und hauptamtlichen Engagements entwickelt. In den beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbänden engagieren sich mehr als eine Million Frauen und Männer ehrenamtlich.

(160) Wie die beschriebenen Potentiale einer erneuerten Sozialkultur werden häufig auch die vielfältigen Leistungen, die im Haushalt und in den Familien erbracht werden, übersehen. Doch indem sich die Familienmitglieder wechselseitig unterstützen, insbesondere die Pflege und Versorgung von Kindern, älteren Menschen und Behinderten übernehmen, dienen sie der Allgemeinheit und leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Entwicklung, Aufrechterhaltung und Einübung sozialen Verhaltens.

 

4.6 Internationale Verantwortung

(161) Die vorangehenden Überlegungen haben sich auf die inneren Verhältnisse entwickelter Industriegesellschaften und der Bundesrepublik Deutschland im besonderen bezogen. Weniger denn je kann jedoch heute ein einzelnes Land allein über seine Zukunft bestimmen. Zukunftsfähigkeit kann die deutsche Gesellschaft niemals im Alleingang erreichen. Ihre internationale Vernetzung bedingt gleichzeitig Schranken und Chancen ihrer weiteren Entwicklung.

(162) Durch die schrittweise Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte nach dem Zweiten Weltkrieg ohne gleichzeitige Herausbildung eines sozial verpflichteten Ordnungsrahmens ist es zur Ausbildung weitgehend autonomer, weder politisch noch sozial eingebundener Wirtschaftsbeziehungen gekommen. Das gilt insbesondere für die transnationalen Unternehmen sowie für den Bereich der Finanzmärkte. Wie sich in jüngster Zeit mehrfach gezeigt hat, können von den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten nicht nur stabilisierende, sondern auch destabilisierende Wirkungen auf nationale Volkswirtschaften ausgehen. Die hohen und ständig steigenden Summen, die fortlaufend auf den internationalen Finanzmärkten umgesetzt werden, verweisen auf die Aufgabe, diese Prozesse zu gestalten und der Entwicklung weltweiter Wohlfahrt dienlich zu machen. Eigentum ist stets sozialpflichtig, auch das international mobile Kapital.

(163) Angesichts der ungehinderten Dominanz privatwirtschaftlicher Interessen auf Weltebene und der daraus resultierenden Beschränkung des politischen Handlungsspielraums einzelner Staaten wird eine verbindliche weltweite Rahmenordnung für wirtschaftliches und soziales Handeln dringlich. Erste Ansätze dazu gibt es in der Tätigkeit der Vereinten Nationen, der Weltbank, des Weltwährungsfonds und vor allem der Welthandelsorganisation (WTO). Sie müssen ausgebaut werden, vor allem durch Regeln für einen fairen wirtschaftlichen Wettbewerb und durch soziale Mindeststandards. Diese Regeln und Standards durchzusetzen wird nur möglich sein, wenn die weltweit tätigen staatsähnlichen Institutionen mit ordnungspolitischer Kompetenz ausgestattet werden.

(164) Die Europäische Union gewinnt in diesem Licht zusätzlich an Bedeutung. Die Aufwertung gemeinsamer geld- und finanzpolitischer Instanzen und die wirtschafts- und sozialpolitische Kooperation zwischen den Mitgliedsländern erweisen sich nicht nur als wünschenswert, sondern als unumgänglich. Tatsächlich ist die Europäisierung der Wirtschaftspolitik viel rascher und entschiedener fortgeschritten als eine entsprechende Entwicklung der Sozialpolitik. Hierfür sind mehrere Gründe maßgeblich. In Europa treffen unterschiedliche Sozialmodelle aufeinander. Eine Harmonisierung ist wegen der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit dieser Systeme und der erheblichen Kosten für die einzelnen Mitgliedstaaten bislang nie ernsthaft in Betracht gezogen worden. Außerdem haben die Mitgliedstaaten sich nur in einigen wenigen im wesentlichen wettbewerbsrelevanten Bereichen der beschäftigungsbezogenen Sozialpolitik darauf verständigen können, der Europäischen Union entsprechende Kompetenzen zu übertragen: so etwa beim Arbeitsschutz sowie bei Einzelfragen des Arbeitsrechtes einschließlich der Chancengleichheit von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt. Mit Rücksicht auf das Prinzip der Subsidiarität wurde auf eine weitergehende Ausgestaltung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene verzichtet. In der Europäischen Union werden die Aufgaben der Sozialpolitik weitgehend auf nationaler Ebene wahrgenommen. Erforderlich ist jedoch eine bessere gegenseitige Abstimmung nationaler Sozialpolitiken und die Schaffung von Mindeststandards im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts. Hierzu bedarf es auch einer stärkeren Repräsentanz von Gewerkschaften und Sozial- und Wohlfahrtsverbänden auf europäischer Ebene.

(165) Zum Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft gehört auch ein Leitbild für die Wahrnehmung internationaler Verantwortung. Deutschland hat infolge der Vereinigung in jüngster Zeit zweifellos an internationalem Einfluß gewonnen. Damit wächst die Verantwortung, in der praktischen Politik zu den notwendigen Fortschritten bei der Förderung der Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten armer Länder, der Beseitigung der Massenarmut, der Bewältigung der Migrationsproblematik, der Verbesserung des internationalen Umweltschutzes, der Annäherung sozialpolitischer Standards und der verantwortlichen Gestaltung der internationalen Finanzmärkte beizutragen. Dies sind Anliegen, ohne die eine weltweite Verwirklichung der Menschenrechte und ein friedliches Zusammenleben der Völker nicht zu erwarten sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund ihrer sozial- und umweltpolitischen Erfahrungen, ihrer im Grundgesetz verankerten politischen Überzeugungen und der eingegangenen europäischen Bindungen in besonderer Weise verpflichtet, alles, was in ihrer Macht steht, zu tun, um diesen Grundsätzen auch international zum Durchbruch zu verhelfen.

 

5. Ziele und Wege

(166) Auf der Grundlage der theologischen und ethischen Darlegungen sowie der Verständigung über einen neuen Grundkonsens für eine zukunftsfähige Gesellschaft stellt sich die Frage nach konkreten Veränderungen. Dabei geht es um Veränderungen, die geeignet und notwendig sind, den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen gerecht zu werden. Es ist nicht Sache der Kirchen, die Ziele und Wege detailliert vorzuschreiben. Sie wollen vielmehr Richtungshinweise geben. Sie wollen zum Handeln ermutigen und so deutlich machen, daß es Lösungswege gibt.

Über die Ziele und Wege besteht in Deutschland wenig Einigkeit. Es genügt deshalb nicht, lediglich berechtigte Forderungen zu erheben. Vielmehr muß erkennbar werden, daß die Verwirklichung dieser Forderungen im wohlverstandenen Interesse auch derjenigen ist, welchen damit Opfer oder Verzichte abverlangt werden. Ein politischer und gesellschaftlicher Grundkonsens kann dabei einen tragfähigen Rahmen bilden, innerhalb dessen sich das gemeinsame Ringen und die unvermeidlichen Auseinandersetzungen um geeignete Lösungswege bewegen.

 

5.1 Arbeitslosigkeit abbauen

(167) Die Arbeitslosigkeit ist kein unabwendbares Schicksal, dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hilflos ausgesetzt wären. Es bestehen durchaus Voraussetzungen dafür, die Massenarbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. Produktion und Volkseinkommen sind in Deutschland so hoch wie nie zuvor. Deutschland verfügt über eine moderne, gut ausgebaute Infrastruktur und eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit leistungsfähigen großen wie kleineren und mittleren Unternehmen. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind hoch qualifiziert und motiviert. Die Sozialpartnerschaft funktioniert, es herrscht sozialer Friede. Die Preise sind stabil und die Zinsen niedrig. Es besteht deshalb kein Anlaß, den „Standort Deutschland" schlechtzureden. Vielmehr kommt es darauf an, daß die Soziale Marktwirtschaft unter Beweis stellt, daß sie ein Problem wie die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit lösen kann und damit einer Wirtschaftsordnung ohne soziale Verpflichtung überlegen ist.

(168) So lange die Erwerbsarbeit die existentielle Grundlage für die Sicherung des Lebensunterhalts, die soziale Integration und persönliche Entfaltung des einzelnen ist, ist es die Aufgabe einer sozial verpflichteten und gerechten Wirtschaftsordnung, allen Frauen und Männern, die dies brauchen und wünschen, den Zugang und die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu eröffnen. Ihnen sollen die mit der Erwerbsarbeit verbundenen Chancen der Teilnahme, der sozialen Integration, der Existenzsicherung und der persönlichen Entfaltung eröffnet werden. Diese Verpflichtung richtet sich gleichermaßen an die Politik und die Tarifvertragsparteien, aber auch an die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern, die Bundesbank sowie die einzelnen Unternehmen und die Vielzahl der Einrichtungen, die als Träger von Beschäftigungsinitiativen in Frage kommen, nicht zuletzt an die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände. Ohne einen breiten Grundkonsens in der Gesellschaft, ohne konzertierte Bemühungen, ohne ein gemeinsames Zusammenwirken der unterschiedlichen Verantwortungsträger kann es keine Fortschritte geben. Um deutlich mehr Arbeitslose in Beschäftigung zu bringen, gibt es keine einfachen und bequemen Lösungen. Es müssen mehrere und unterschiedliche Wege beschritten werden.

(169) Neue Arbeitsplätze müssen zunächst von einer erfolgreichen, effektiven und wettbewerbsfähigen Wirtschaft am regulären Arbeitsmarkt erwartet werden. Wenn Arbeitslosigkeit abgebaut werden soll, dann müssen deshalb vor allem wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen werden. Insbesondere in Jahren anhaltend hoher Massenarbeitslosigkeit und unübersehbar verschärften internationalen Wettbewerbs erscheint es ökonomisch geboten und sozial vertretbar, für Lohn- und Gehaltszuwächse einzutreten, die sich am Produktivitätsfortschritt orientieren und die Lohnstückkosten nicht erhöhen. Arbeitsmarktpolitik ist auf die positiven Beschäftigungseffekte des dynamischen wirtschaftlichen Strukturwandels angewiesen.

(170) Alle Träger der Wirtschaftspolitik sollten daher den Strukturwandel durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen der Wirtschaft fördern. Vordringliche Aufgabe ist dabei eine umfassende Reform der Steuer- und Abgabensysteme mit dem Ziel, die Steuer- und Abgabenbelastung zu vermindern und zugleich das Steuer- und Abgabensystem insgesamt arbeitsplatzfördernder und sozial gerechter zu gestalten. Notwendig ist weiter eine Verstärkung der Anreize für technologische und wirtschaftliche Innovationen. Nur so können technologisch hochwertige Produkte hergestellt werden, und nur so kann die Wirtschaft auf veränderte Marktbedingungen schnell reagieren. Erforderlich ist es, zusätzliche Beschäftigungspotentiale und Beschäftigungsfelder zu erschließen. Diese Beschäftigungspotentiale sind im wesentlichen im Bereich neuer Techniken und technologischer Innovation (Mikroelektronik, Biotechnologie, neue Medien, Anwendung neuartiger Werkstoffe, Umwelttechnologien, Verkehr) und im Bereich der industrienahen sowie der privaten Dienstleistungen zu suchen. Notwendig ist schließlich die Verbesserung des Ausbildungssystems. Bildung und Ausbildung sind als lebenslange Aufgabe zu begreifen; sie dürfen nicht auf einzelne Lebensabschnitte begrenzt bleiben.

(171) Gefördert werden müssen darüber hinaus Selbständigkeit und unternehmerische Initiative. Arbeitsplätze wurden und werden überwiegend in den beschäftigungsintensiven kleineren und mittleren Betrieben des Handwerks und Mittelstandes erhalten und geschaffen. In ihnen arbeitet nicht nur die Mehrzahl der Beschäftigten; sie stellen auch die weitaus meisten Ausbildungsplätze bereit. Mit jeder Existenzgründung werden in Deutschland im Durchschnitt vier Arbeitsplätze eingerichtet. Hier gilt es, eine neue Kultur der Selbständigkeit anzuregen. Vor allem der Bereich des Handwerks und des Mittelstandes bietet große Chancen für Betriebsgründungen und eine selbständige Existenz. Junge Menschen sollten bereits im allgemeinen und beruflichen Bildungswesen ermutigt und befähigt werden, eine selbständige Existenz aufzubauen, zumal auch der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin der Zukunft in allen Wirtschaftsbereichen zu selbständigem und eigenverantwortlichem Arbeiten fähig sein müssen.

(172) Der Grundgedanke vom Teilen der Erwerbsarbeit war den Kirchen in der Diskussion um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit stets wichtig. Sie haben nie behauptet, daß sich Arbeitslosigkeit allein oder vorrangig durch das Teilen von Erwerbsarbeit überwinden lasse. Aber es gilt, auch diesen Weg zu nutzen. Arbeitszeitverringerungen ohne vollen Lohnausgleich können dazu beitragen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Männer und Frauen zu erhöhen. Auch mehr Teilzeitarbeitsplätze und der Abbau von Überstunden sind geeignet, die vorhandene Arbeit breiter zu verteilen. Arbeitszeitflexibilisierung, die (bei Wahrung der Interessenlage von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und der familiären Erfordernisse der Arbeitnehmer) sowohl kürzere als auch längere Arbeitszeiten ermöglicht, kann ebenfalls zur Minderung der Arbeitslosigkeit beitragen. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht dem Verzicht auf Einkommen bzw. Einkommenszuwächse eine Erhöhung der Freizeit und der eigenen Zeitsouveränität gegenüber. Die Unternehmen können höhere Kosten mit den Einsparungen verrechnen, die sich aus einer Arbeitszeitflexibilisierung mit möglichen längeren Betriebsnutzungszeiten ergeben. Verbesserungen der betrieblichen Ergebnisse sind auch von einer partnerschaftlichen Unternehmensverfassung und partizipativen Betriebsführung zu erwarten, da sie eine höhere Motivation und Kreativität der Beschäftigten sowie eine höhere Identifikation mit dem Betrieb fördern.

(173) Aus ethischer Sicht steht bei der Frage des Teilens der vorhandenen Arbeit eine schwierige Aufgabe des Interessenausgleichs an: zwischen den Arbeitslosen, den Arbeitnehmern mit niedrigem Einkommen, den Arbeitnehmern mit höherem Einkommen, den Haushalten mit mehreren Besserverdienenden und den Unternehmen, aber auch zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten sowie zwischen den Geschlechtern. So bedeutet geteilte Arbeit eben auch geteilten Lohn. Andererseits ist zu bedenken, daß nicht alle ihr Einkommen teilen können, insbesondere nicht die, die ohnehin ein geringes Einkommen beziehen. Die Auswirkungen vermehrter Teilzeitarbeit und unregelmäßiger Erwerbsverhältnisse auf die soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter erfordern die Gewährleistung von Untergrenzen der sozialen Absicherung. Geringfügige Beschäftigungen, sofern sie reguläre Arbeitnehmertätigkeiten umfassen, sollten dabei in die Sozialversicherungspflicht einbezogen werden. Nichtversicherte Arbeitsverhältnisse müssen die Ausnahme bleiben. Teilzeitbeschäftigung sollte in stärkerem Maße auch für Männer angeboten und von ihnen in Anspruch genommen werden, um eine weitere Spaltung des Arbeitsmarktes zu Lasten der Frauen zu vermeiden. Betriebe und öffentliche Verwaltungen sind insbesondere zu ermutigen, auch im Bereich höherwertiger Tätigkeiten Teilzeitarbeit zu ermöglichen.

(174) Erforderlich ist schließlich auch, die aktiven Instrumente der gestaltenden Arbeitsmarktpolitik auszuschöpfen und weiter zu entwickeln. Dazu zählen u. a. die Qualifizierung von Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten und die Verbesserung der beruflichen Integration von Langzeitarbeitslosen. Hier hat der gesamte Sektor öffentlich geförderter Arbeit eine wichtige Funktion: angefangen von der Förderung von Beschäftigungsgesellschaften bis hin zur Unterstützung von sogenannten Sozialen Betrieben und Programmen wie z. B. „Arbeit statt Sozialhilfe" sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Beim Einsatz dieser Instrumente geht es vor allem darum, daß die verschiedenen staatlichen Ebenen und die verschiedenen arbeitsmarktpolitischen Träger gemeinsam ihre Verantwortung beim Abbau der Massenarbeitslosigkeit wahrnehmen. Auch angesichts knapper öffentlicher Kassen bleibt es sinnvoller, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Arbeit ist genügend vorhanden. Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, den gesellschaftlichen Reichtum so einzusetzen, daß sie auch bezahlt werden kann. Im Bereich der Umwelt- und Landschaftspflege, der haushalts- und personenbezogenen Dienstleistungen und der Jugendhilfe, der Stadtsanierung und der geringfügigen Reparaturen gibt es erheblichen Bedarf. Öffentlich geförderte Arbeit ist - auch bei Vorrang des regulären Arbeitsmarktes - unverzichtbar, denn das Menschenrecht auf Arbeit kann in absehbarer Zeit nicht im Bereich des regulären Arbeitsmarktes allein verwirklicht werden. In Kooperation mit den Betrieben der privaten Wirtschaft sollten deshalb durch eine bessere Verzahnung von Arbeits- und Sozialeinkommen Formen öffentlich geförderter Arbeit entwickelt und Anreize für ein erleichtertes Überwechseln aus der Arbeitslosigkeit oder auch aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in reguläre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Dabei wird es notwendig sein, daß eine vergleichsweise geringe, vom Arbeitgeber zu zahlende Entlohnung durch ein zusätzliches Sozialeinkommen ergänzt wird, damit die Beschäftigten nicht in Armut geraten.

(175) Die Förderung von lokalen Beschäftigungsinitiativen, die in enger Zusammenarbeit zwischen Kommunen, freien Initiativen, Unternehmen und gesellschaftlichen Institutionen wie Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Industrie- und Handelskammern oder Handwerkskammern entstanden sind, sollte ausgebaut werden. Eine dezentralisierte Arbeitsmarktpolitik kann situationsangemessene Strategien zur Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten entwickeln, z. B. Arbeitgebern anbieten, Angehörige von Problemgruppen des Arbeitsmarktes probeweise kennenzulernen.

(176) Bei der Lösung der Beschäftigungskrise kommt es schließlich darauf an, die „Dominanz der Erwerbsarbeit" zu überwinden und die verschiedenen Formen von Arbeit gesellschaftlich anzuerkennen und zu unterstützen. Arbeit wird nicht nur im Erwerbsbereich geleistet, sondern auch in der Familie und in sog. ehrenamtlichen Tätigkeiten. Gerade im Raum der Kirchen und im öffentlichen Leben spielen diese Arbeitsformen eine bedeutende Rolle. An dieser Stelle ist besonders auf die Zwischenformen zwischen der arbeitsvertraglich geregelten Erwerbsarbeit und Familienarbeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten hinzuweisen. Sie erhalten auf dem Hintergrund längerer Freizeit, erschwerter Zugänge zum Arbeitsmarkt, besserer Bildung und Ausbildung und eines steigenden Bedarfs an gesellschaftlich notwendiger Arbeit eine immer größere Bedeutung.

 

5.2 Den Sozialstaat reformieren

5.2.1 Die sozialen Sicherungssysteme konsolidieren

(177) Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland haben sich bisher als tragfähig erwiesen und sich gerade auch in den jüngsten Jahren angesichts wachsender wirtschaftlicher Anspannungen, anhaltender Massenarbeitslosigkeit und der Zunahme persönlicher Notlagen und Hilfsbedürftigkeit weitgehend bewährt. Ihre Aufgabe ist es, jeder Person Entfaltungschancen zu eröffnen, sie gegenüber den elementaren Lebensrisiken (Krankheit, Invalidität, Alter) abzusichern und ein menschenwürdiges Dasein zu gewährleisten, nicht jedoch, alle persönlichen Nachteile und Wechselfälle des Lebens materiell auszugleichen. So wenig es deshalb angeht, den Sozialstaat als Garanten für die Bewältigung aller persönlichen Wechselfälle des Lebens mißzuverstehen, so wenig wäre es mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar, die staatlichen Aufgaben bei der sozialen Sicherung zu vernachlässigen. Angesichts der gegenwärtigen Umbrüche steht dem deutschen Sozialstaat seine entscheidende Bewährungsprobe aber noch bevor.

(178) Kern des Sozialstaats ist in Deutschland das beitrags- und leistungsbezogene, am Erwerbseinkommen anknüpfende Sozialversicherungssystem. Der im demokratischen Konsens selbst auferlegte Zwang zur solidarischen Vorsorge hat dazu geführt, daß heute der überwiegende Teil der Bevölkerung im Risikofall eine wirksame soziale Sicherung erhält. Wer z. B. krank wird, soll deshalb nicht sozial absteigen müssen. Ein solches Sozialversicherungssystem bleibt - trotz des erheblichen privaten Vermögenszuwachses in Westdeutschland - auch in Zukunft unverzichtbar. Denn Geld- und Grundvermögen ist in zunehmendem Maß ungleich verteilt, so daß die breite Bevölkerungsmehrheit auch in Zukunft nicht über ein ausreichendes Vermögen zur Absicherung der elementaren Lebensrisiken verfügen wird. Kennzeichen des Sozialsystems ist weiterhin ein das Sozialversicherungssystem ergänzendes, steuerfinanziertes Transfersystem, das nicht zuletzt der Armutsbekämpfung dient.

(179) Der Sozialstaat ist und bleibt verpflichtet, jedem Menschen in Deutschland ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die Sozialhilfe dient dabei als letztes Auffangnetz im System der sozialen Sicherung. Sie legt den Standard fest, der Hilfsbedürftigen in Notlagen zukommt. Ihre Prinzipien „Bedarfsdeckung, Individualisierung, Nachrangigkeit" müssen erhalten bleiben. Das Bundessozialhilfegesetz hat sich seit seiner Einführung im Jahre 1961 bewährt. Belastet wurde dieses Auffangnetz in den letzten Jahren dadurch, daß es für immer größere Personengruppen zu einer Regelversorgung geworden ist. Wenn die vorrangigen sozialen Sicherungssysteme (wie z. B. Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Familienlastenausgleich u. a.) tatsächlich, ihrem Auftrag entsprechend, in den allermeisten Leistungsfällen wirkliche Not verhinderten, hielte sich auch der Reformbedarf innerhalb der Sozialhilfe in Grenzen. Die Sozialhilfe könnte wesentlich entlastet werden, wenn die vorrangigen sozialen Sicherungssysteme „armutsfest" gemacht werden. Dabei ist insbesondere an eine Sockelung des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe und letztlich auch der gesetzlichen Rente auf die Höhe des soziokulturellen Existenzminimums bei einem steuerfinanzierten Ausgleich für die Sozialversicherungen zu denken. Ein entscheidender Schritt zur Bekämpfung der verdeckten Armut wäre getan.

(180) Die Regelsätze der Sozialhilfe sind so auszugestalten, daß sie am Bedarf orientiert bleiben und jährlich fortgeschrieben werden unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten, der Veränderung des Verbrauchsverhaltens und der durchschnittlichen Nettolohnentwicklung aller Arbeitnehmer (nicht nur der unteren Lohngruppen). Der Lohnabstand zwischen Sozialhilfe und unteren Lohngruppen ist gegenwärtig gewahrt. Nur wegen des ungenügenden Familienlastenausgleichs nähert sich bei Familien mit mehreren Kindern die Sozialhilfe den unteren Nettolöhnen. Hier ist das Lohnabstandsgebot jedoch kein sachgerechter Maßstab, da die Kinderzahl in einem leistungsorientierten Lohnsystem nicht berücksichtigt wird. Um so dringlicher wird eine bedarfsgerechte Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs.

(181) Die Sozialhilferegelsätze sollten nicht „eingefroren" werden, weil damit nicht nur reale Kürzungen des Existenzminimums verbunden sind, sondern (wegen der damit verbundenen Rückwirkungen auf den Familienlastenausgleich) auch die Familien benachteiligt werden. Weder für Deutsche noch für Ausländer sollten Sachleistungen an die Stelle finanzieller Zuwendungen treten. Arbeitseinkommen sollten nur zu einem bestimmten Teil auf die Höhe bedarfsorientierter Leistungen angerechnet werden, damit sich für ihre Empfänger die Aufnahme einer legalen Erwerbstätigkeit lohnt. Das Problem liegt weniger darin, Sozialhilfeempfänger zur Erwerbsarbeit zu motivieren, als ihnen geeignete Arbeitsmöglichkeiten bereit zu stellen. Schließlich sollte bei künftigen Reformen der Sozialhilfe berücksichtigt werden, daß die besondere Art und Praxis der derzeitigen Bedarfsprüfungen für viele Anspruchsberechtigte eine so hohe Barriere darstellt, daß sie trotz dringenden Bedarfs auf ihren Anspruch verzichten.

(182) Für eine erfolgreiche Bekämpfung der Armut kommt einer sozialen Wohnungspolitik besondere Bedeutung zu. Die derzeitigen wohnungspolitischen Instrumente - steuerliche Förderung, Objektförderung im sozialen Wohnungsbau, Individualförderung mit Wohngeld - erreichen die sozial- und einkommensschwachen Haushalte nur unzureichend oder gar nicht. Ein großes Problem besteht darin, daß das Wohngeld seit Jahren nicht angepaßt worden ist. Die direkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus kommt häufig auch Beziehern mittlerer Einkommen und Wohlhabenden zugute. Hier müssen Fehlsteuerungen vermieden werden. Die direkte Förderung des sozialen Wohnungsbaus sollte mit dem Ziel einer größeren Verfügungs- und Einkommensgerechtigkeit weiterentwickelt und mit den übrigen Förderinstrumenten stärker verzahnt werden. Es sollte geprüft werden, auf längere Sicht die Objektförderung grundsätzlich durch eine bedarfsorientierte Subjektförderung für sozial Schwache zu ersetzen. Das Wohngeld ist regelmäßig und zeitnah an die Einkommens und Mietpreisentwicklung anzupassen, um die Wohnkostenbelastung für die einkommensschwächeren Haushalte tragbar zu halten. Zur Beseitigung struktureller Armutsursachen gehören ferner wirksame Hilfen, die Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit vermeiden und damit vor dem Verlust des Hauses oder der Wohnung schützen.

(183) Die Wiederherstellung des Vertrauens in die Rentenversicherung ist von großer Dringlichkeit. Die demographische Entwicklung, d. h. die höhere Lebenserwartung und die geringere Kinderzahl bewirken eine Verschiebung im Verhältnis von Beitragszahlern und Rentnern. Mit der Rentenreform 1992 konnte die Alterssicherung zunächst stabilisiert werden, indem die Renten an die Nettolohnentwicklung angepaßt wurden. Außerdem ist die Anhebung der möglichen Renteneintrittsgrenze vorgesehen. Die neue Rentenformel verknüpft Rentenhöhe, Rentenversicherungsbeitrag und Bundeszuschuß zur Rente und ermöglicht so eine größere Anpassungsfähigkeit der Rentenversicherung und eine faire Verteilung der demographischen Risiken auf Beitragszahler und Rentner.

(184) Weitere Reformschritte sind notwendig. Dem absehbaren Anstieg des Beitragssatzes infolge der demographischen Veränderungen muß entgegengewirkt werden. Die zu erwartende Zuwanderung stellt dann eine positive Einflußgröße dar, wenn die Zugewanderten im erwerbsfähigen Alter sind und ihnen gesicherte Arbeitmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Welches Niveau der Renten auf Dauer gehalten werden kann, ist von der Entwicklung der Beschäftigung, der Höhe der Einkommen und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abhängig. Notwendig ist auch eine Reform der Beamtenversorgung und der Sicherung der Angestellten im öffentlichen Dienst. Eine Reform in diesem Bereich, die vor allem eine stärkere Eigenbeteiligung der Beamten an ihrer Altersvorsorge vorsieht, ist auch aus Gründen sozialer Gerechtigkeit überfällig.

(185) Schwieriger als erwartet gestalten sich die Strukturreformbemühungen im Gesundheitswesen. Nach wie vor besteht Reformbedarf. Auch in Zukunft müssen eine vollwertige medizinische Versorgung für jedermann und ein freier, von der Einkommensituation unabhängiger Zugang aller zur Gesundheitsfürsorge unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Bedürfnisse gewährleistet sein. Die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und die Versorgung auf einem hohen medizinischen und pflegerischen Niveau dürfen nicht preisgegeben werden. Solidarität und Gerechtigkeit im System müssen gewahrt bleiben. Ausgabenbegrenzungen im Gesundheitswesen dürfen nicht dazu führen, Medizin und Pflege auf technische Vollzüge zu reduzieren; menschliche Zuwendung und Patientennähe sind unentbehrliche Kennzeichen einer humanen Gesundheitsversorgung. Schon das geltende Recht der gesetzlichen Krankenversicherung sieht eine Vielzahl von Eigenbeteiligungen und Zuzahlungen vor. Damit wurden zu Lasten der Patienten zusätzliche Beitragserhöhungen abgewendet. Maßnahmen zur Begrenzung des Kostenanstiegs auf Seiten der Anbieter von Gesundheitsleistungen müssen ausgewogen sein und dürfen die Vielfalt der Leistungserbringer und Einrichtungsträger nicht gefährden. Bei weiteren Maßnahmen zur Sicherung der Gesundheitsversorgung ist darauf zu achten, daß sie nicht einem Entsolidarisierungsprozeß Vorschub leisten und Einkommensschwache in unvertretbarer Weise benachteiligen. Kommt es zu allzu rigiden Begrenzungen, so werden die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten wesentlich höher sein als die kurzfristig erzielten Spareffekte, und der gesetzlich verankerte Vorrang von Prävention, Rehabilitation und ambulanter vor stationärer Hilfe würde gefährdet.

(186) Das soziale Sicherungssystem ist auf eine Ergänzung durch private Vorsorgeleistungen angewiesen. In Form der Bildung von Wohneigentum ist dieses auch in großem Umfang geschehen. Eine Ergänzung durch Maßnahmen der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand könnte eine zusätzliche Sicherung bedeuten, auch wenn man das quantitative Ausmaß derartiger Schritte nicht überschätzen darf. Das für die Ausgestaltung des deutschen Sozialstaats zentrale Subsidiaritätsprinzip kann bei der Ergänzung durch private Vorsorgeleistungen einen wichtigen Hinweis geben. Die Absicherung durch die gesetzlichen Sozialversicherungen könnte bei denjenigen Bürgerinnen und Bürgern reduziert werden, die sich eine Eigenvorsorge ohne starke Einschränkungen des Lebensstandards leisten können. So zeigt u. a. die Entwicklung des privaten Vermögens in Deutschland, daß auch die höheren Einkommensschichten bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu einer stärkeren eigenen Altersvorsorge in der Lage sind. Auf keinen Fall ist es vertretbar, die soziale Sicherheit durch den Sozialstaat bei denjenigen zu senken, die auf diese Leistungen angewiesen sind. Angesichts der sehr ungleichen Verteilung des gewachsenen Vermögens bleibt das gesetzliche Sozialversicherungssystem auch in Zukunft für den Großteil der Bevölkerung unverzichtbar.

(187) Finanzierungsprobleme und Leistungsdefizite des Systems sozialer Sicherung tragen gleichermaßen zur Krise des Sozialstaats bei. Das in der Öffentlichkeit weithin akzeptierte Ziel, die Sozialquote nicht zu steigern und die Lohnnebenkosten angesichts der Beschäftigungskrise zu senken, schließt es aus, Leistungen zu erhöhen oder neue Leistungen einzuführen, ohne zugleich andere Leistungen zu reduzieren. Andererseits verweist die zunehmende Armut in Deutschland darauf, daß es derzeit auch sozialstaatliche Leistungen gibt, die ihr Ziel, sozialen Abstieg und Armut zu verhindern, nicht erreichen. Um so wichtiger ist es deshalb, die Diskussion über die Finanzierungsfragen des Sozialstaates nicht nur quantitativ als finanzpolitische Spardebatte zu führen, sondern vor allem als gesellschaftspolitische Gestaltungsdebatte. Die Grundlagen und die Finanzierung dieses Sozialsystems werden dann erhalten und gesichert werden können, wenn eine breite und nachhaltige Einkommenserzielung in der Volkswirtschaft gewährleistet ist, verbunden mit einer flexiblen Abstimmung von Beiträgen und Leistungen.

(188) Die wichtigste Voraussetzung für die Finanzierbarkeit des sozialen Sicherungssystems bleibt eine Beschäftigungspolitik, welche den Anteil der Beitragszahler erhöht und den Anteil derjenigen, die auf Transferleistungen für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind, reduziert. Aus verteilungs- und beschäftigungspolitischen Gründen kommt es darauf an, daß die Lohnnebenkosten gesenkt und die notwendigen Mittel für die versicherungfremden Leistungen von den Steuerzahlern aufgebracht werden. Solange wesentliche Bevölkerungsgruppen nicht zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme beitragen, ist es fragwürdig, gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie z. B. die Qualifizierung oder Beschäftigung von Arbeitskräften oder die Folgekosten der Vereinigung über Versicherungsbeiträge zu finanzieren.

(189) Dagegen ist ein gewisser Lastenausgleich (z. B. Möglichkeit der Mitversicherung von Kindern) innerhalb der Versichertengemeinschaft durchaus mit den Prinzipien der Sozialversicherung vereinbar. Es ist ja gerade der Sinn der Sozialversicherung, auch solche Risiken abzusichern, die von der Privatversicherung als „schlechte Risiken" ausgegrenzt werden. Voraussetzung für die Beitragsfinanzierung der Leistungen ist jedoch, daß der Kreis der Leistungsempfänger mit demjenigen der Beitragszahler und deren Familien weitgehend übereinstimmt.

(190) Der notwendige Umbau des Sozialstaates läßt sich nicht ohne Einsparungen und Einschnitte bewerkstelligen. Die öffentlichen Haushalte dürfen nicht durch eine noch höhere Verschuldung belastet werden. Eine nachhaltige Finanzpolitik verbietet eine Staatsverschuldung zu Lasten künftiger Generationen. Auch darf die Steuer- und Abgabenlast nicht weiter erhöht werden. Die derzeitigen Finanzierungsschwierigkeiten gehen überwiegend auf die hohe Arbeitslosigkeit und ihre Folgen zurück und erschweren es gerade in dieser Situation, die Lebensbedingungen der Schwachen in der Gesellschaft zu sichern. Nicht der Sozialstaat ist zu teuer, sondern die hohe Arbeitslosigkeit. Der Sozialstaat und die sozialstaatlichen Leistungen sind nicht die Ursache für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Es kann deshalb auch nicht davon ausgegangen werden, daß die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn die sozialstaatlichen Leistungen eingeschränkt werden. Eine dauerhafte Konsolidierung des Sozialstaats läßt sich - bei allem notwendigen Reformbedarf - nicht ohne einen nachhaltigen und energischen Abbau der Arbeitslosigkeit erreichen. Probleme des wirtschaftlichen Erfolges und der Beschäftigung können nicht durch das Transfersystem gelöst werden. Ebensowenig ist es auf Dauer möglich, den Sozialstaat der anhaltenden Arbeitslosigkeit anzupassen und damit im Trend immer weniger Erwerbstätigen die Versorgung von immer mehr Nichterwerbstätigen zu übertragen. Eine ursachengerechte Reform der beitragsfinanzierten sozialen Sicherungssysteme muß demgegenüber darauf ausgerichtet sein, den Zusammenhang zwischen Beitragsleistung und Versicherungsanspruch wieder zu festigen, die individuelle Eigenverantwortung zu stärken, die Sozialversicherungen von versicherungsfremden Leistungen zu entlasten und die Basis der Solidargemeinschaft zu verbreitern.

(191) Die Bevölkerung ist bereit, notwendige Einsparungen mitzutragen, wenn sie sieht und davon ausgehen kann, daß die Lasten und die Leistungen gerecht verteilt sind, dabei die Gesamtheit der Solidargemeinschaft erfaßt wird und soziale Gerechtigkeit und Solidarität nicht nur bei den Ausgaben und Leistungen, sondern bereits auch bei der Aufbringung der Mittel gewahrt bleiben. Wo dies nicht geschieht und wo ungleiche Belastungen vorgenommen werden, ist offener und engagierter Widerspruch berechtigt. Korrekturen sind beim Sozialstaat insbesondere notwendig im Blick auf die gerechte Verteilung der Finanzierungslasten, die Gleichbehandlung gleicher sozialer Tatbestände, die Beseitigung von Mißbrauch und die Begrenzung unangemessener Vorteile. Solidarität und soziale Gerechtigkeit gebieten es allerdings, Steuervergünstigungen und Subventionen in gleicher Weise zu überprüfen, insgesamt mehr Steuergerechtigkeit herzustellen und Steuerhinterziehung, die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Steuervergünstigungen und Subventionen sowie die Korruption entschiedener zu bekämpfen. Der Bundesrechnungshof hat in seinem Jahresbericht 1996 zum wiederholten Mal den ungleichen Umgang mit den Steuerbürgern kritisiert und „schlagkräftigere steuerliche Betriebsprüfungen" angemahnt.

 

5.2.2 Solidarität in der Gesellschaft stärken

5.2.2.1 Die Familien fördern

(192) In der Familie erfahren Menschen Erfüllung, geschieht die personale Entfaltung von Kindern, werden soziale Verantwortung und Solidarität eingeübt, Erfahrungen und Traditionen weitergegeben. Belastungen für die Familie, Erschwerungen ihres Lebensalltags und Beschränkungen der Entfaltungschancen treffen in besonderer Weise die Kinder. Die Familie ist wegen ihrer Bedeutung für die Gesellschaft besonders schutzbedürftig. Sie steht mit der Ehe mit Recht „unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" (Art. 6 Abs. 1 GG). Der Auftrag, Ehe und Familie in besonderer Weise zu schützen und zu fördern, richtet sich über Staat und Rechtsordnung hinaus an die gesamte Gesellschaft. Um den vielfältigen berechtigten Belangen und Interessen von Familien gerecht zu werden, ist ein Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte, der Politik, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, der Verbände, der Kirchen und Medien und nicht zuletzt auch der Familien selbst und ihrer Interessenvertretungen unerläßlich. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt den Vorrang der sozialstaatlichen Aufgabe, für einen gerechten Ausgleich der Belastungen und wirtschaftlichen Nachteile zu sorgen, die Familien durch die Erziehung von Kindern in Kauf nehmen. Das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit verlangt dabei, daß auch Personen, wie z. B. Alleinerziehende, die außerhalb der Ehe vergleichbare familiale Leistungen erbringen, nicht zuletzt im Interesse der Kinder einen entsprechenden Anspruch haben.

(193) Familie und Wirtschaftssystem sind wechselseitig aufeinander angewiesen, jedoch sind unter den gegenwärtigen Bedingungen die Familien einseitig zu Anpassungen an die Erfordernisse der Erwerbsarbeit gezwungen, die zu Lasten des Familienlebens und gemeinsamer Familienzeit gehen. Eine halbwegs zufriedenstellende Lösung des Problems der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit ist für junge Paare häufig ausschlaggebend bei der Entscheidung für oder gegen Kinder und für eine befriedigende Gestaltung des Lebens mit Kindern. Die Arbeitswelt und die Betriebe müssen sich deshalb stärker auf die Bedürfnisse der Familien einstellen; Familienfragen dürfen auch in Zeiten einer angespannten Konjunktur und Arbeitsmarktlage kein Randthema bleiben, sondern müssen Bestandteil jeder Unternehmenspolitik sein. So sind z. B. mehr qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze notwendig, die für Männer und Frauen gleichermaßen zugänglich sind und nicht nur Anreize für weniger Qualifizierte bieten. Vorstellungen, die vor allem Männern die Erwerbsanforderungen und Frauen die Familienanforderungen zuweisen, werden weder dem gewandelten Rollenverständnis von Mann und Frau in der Gesellschaft noch den gleichberechtigten Beziehungsformen in den Partnerschaften gerecht. Auch durch eine Erhöhung der Zeitsouveränität von Eltern im Wege der Flexibilisierung der Arbeitszeit und der Arbeitsformen läßt sich die Erwerbsarbeit insgesamt familienfreundlicher gestalten. Wird die Wahlfreiheit von Familienarbeit und Erwerbsarbeit ernst genommen, sind Kindertageseinrichtungen notwendigerweise fester Bestandteil eines solchen Konzepts.

(194) Eine wirkliche Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit setzt weiter voraus, daß beide in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Wohlfahrt und für die persönliche Lebensgestaltung als gleichrangig verstanden und nicht einander nachgeordnet werden. Angesichts der gegenwärtigen Prioritätensetzungen ist eine stärkere gesellschaftliche und politische Anerkennung der Familientätigkeit erforderlich, die sich auch in finanzieller Anerkennung niederschlagen muß. Damit wird im Interesse der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Eltern der Zwang reduziert, aus wirtschaftlichen Gründen das Familienleben der Erwerbstätigkeit nachzuordnen oder für die Berücksichtigung der Familieninteressen hohe Kosten auf sich zu nehmen.

(195) Eltern, die ihrer Kinder wegen nicht erwerbstätig sind oder eine Teilzeitstelle annehmen, dürfen im System der sozialen Sicherheit, vor allem in der Renten- und Pflegeversicherung, nicht länger diskriminiert werden. Dies ist um so wichtiger, als es wünschenswert ist, daß ein Elternteil um der Kinder willen in der Lage ist, auf eine Erwerbstätigkeit zumindest zeitweise zu verzichten, um Familien- und Erziehungsarbeit leisten zu können. Eine echte Wahlfreiheit in der Gestaltung von Familien- und Erwerbsarbeit im Familienzyklus besteht erst dann, wenn daraus keine nachteiligen Folgen vor allem im Blick auf die Altersversorgung erwachsen und sich beide Eltern sowohl für Familienarbeit als auch Erwerbsarbeit entscheiden können. Daher muß angestrebt werden, die Zeiten der Kinderziehung in der gesetzlichen Rentenversicherung noch stärker rentenbegründend und rentensteigernd anzuerkennen und die Chancen der beruflichen Wiedereingliederung von Eltern weiter zu verbessern.

(196) Familien in besonderen Lebenssituationen sind zusätzlichen Belastungen ausgesetzt und deshalb auch in stärkerem Maße auf Unterstützung angewiesen: So haben Alleinerziehende nicht nur häufig mit finanziellen Problemen zu kämpfen, sondern ihnen erwachsen bei fehlenden Hort- und Kindergartenplätzen auch erhebliche Schwierigkeiten, Familie und materielle Existenzsicherung in der Erwerbsarbeit zu vereinbaren. Eine ungewollte Schwangerschaft kann Frauen, Paare oder Familien in schwierige Konfliktsituationen führen, wenn dadurch der zukünftige materielle Lebensunterhalt und alle bisherigen Perspektiven und Hoffnungen für das eigene Leben oder soziale Beziehungen, bis hin zur bestehenden Partnerschaft, in Frage gestellt werden. In dieser Situation müssen die betroffenen Frauen und Paare nicht nur die Möglichkeit haben, eine Beratung zu finden, die ihnen die Entscheidung für die Annahme des Kindes erleichtert, sondern auch alle weitergehenden Hilfen und Unterstützungen für ein Leben mit dem Kind erhalten.

In einer besonders belasteten Situation müssen oft Ausländerfamilien leben, da sie sich nicht nur in einer anderen Kultur und bei fremden Menschen zurechtfinden müssen, sondern vielfach zusätzlichen Vorbehalten bis hin zur Ablehnung ausgesetzt sind. Menschen anderer Nationalität müssen in Deutschland sicher sein, eine menschenwürdige Behandlung zu erfahren. Unter besonderen Schwierigkeiten leben Kinder von Ausländerfamilien, weil die sprachlichen Voraussetzungen für den Schulerfolg ungünstiger sind und sie vielfach auch schwere Spannungen zwischen den Wertorientierungen ihrer Herkunftsfamilie und dem Leben unter den Gleichaltrigen erleben. Ausländische Eltern und ihre Kinder verdienen nicht nur die gleiche Anerkennung wie deutsche, sondern darüber hinaus besondere sprachliche Förderung und Beratung.

(197) Um eine angemessene materielle Absicherung und gesellschaftliche Anerkennung von Familien zu erreichen, ist es insbesondere geboten, das Steuersystem so auszugestalten, daß Ehepaare oder Alleinstehende mit Kindern nicht schlechter gestellt werden als kinderlose Steuerzahler. Dazu müssen die existenznotwendigen Aufwendungen für Kinder in realistischer Höhe angesetzt und von steuerlichen Belastungen freigestellt werden. Das Kindergeld sowie das Erziehungsgeld sind auch der Höhe nach so auszugestalten, daß Kinder jedenfalls nicht die Ursache für Armut sein können und keine Familie auch in den niedrigeren Einkommensbereichen lediglich auf Grund der Tatsache, daß sie Kinder hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist. Die sozialstaatlich gebotene Sicherstellung des wirtschaftlichen Existenzminimums von Familien erfordert die Anpassung der finanziellen Leistungen an die wirtschaftliche Entwicklung in angemessenen Zeitabständen. Diese staatlichen Leistungen und ihre bedarfsgerechte Anpassung müssen auch bei engen haushaltspolitischen Spielräumen verläßlich sein und dürfen nicht jeweils neuen und anderen Finanzierungsprioritäten untergeordnet werden.

(198) Ein wichtiger Aspekt für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien ist die Bereitstellung familiengerechten Wohnraums und eines kinder- und familienfreundlichen Wohnumfeldes. Hier liegt auch eine besondere Verantwortung bei den Kommunen, welche gezielt günstige Baugrundstücke gegebenenfalls auch in Erbpacht für junge Familien vorhalten sollten. Die wohnungspolitischen Fördermaßnahmen nicht zuletzt bei der Wohneigentumsbildung sollten vorrangig Familien im unteren und mittleren Einkommensbereich und mit mehreren Kindern zugute kommen.

(199) Über die finanzielle Förderung hinaus sind die Familien vielfach auf institutionelle Hilfe wie Tageseinrichtungen und Tagespflege für Kinder oder Angebote der Familienbildung angewiesen. Andere Hilfen sind besonders auf Familien unter belasteten Lebensbedingungen und schwierigen Situationen ausgerichtet, wie z. B. die verschiedenen Beratungsdienste, die Familienhilfe und die Familienerholung. In diesen Hilfen kommt zum Ausdruck, daß es sich bei der Unterstützung der Familien mit Kindern um eine gesamtstaatliche Aufgabe handelt, die dort ansetzen muß, wo die Familie an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stößt oder aufgrund ihrer besonderen Situation auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist.

 

5.2.2.2 Chancengerechtigkeit zwischen Frauen und Männern verwirklichen

(200) Ein zentrales Anliegen vieler Eingaben des Konsultationsprozesses war es, die grundlegenden Veränderungen der Stellung der Frauen in Wirtschaft und Gesellschaft stärker zu berücksichtigen. Zugleich wurde eine Vielzahl konkreter Belastungen und Benachteiligungen angeführt, die bisher immer noch in Politik, Gesellschaft, Beruf und Familie der Gleichberechtigung von Mann und Frau und der Chancengerechtigkeit zwischen ihnen entgegenstehen.

(201) Die in Familie, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dominierende Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist ursächlich für die weithin noch fehlende Chancengerechtigkeit für Frauen, auch wo diese über ein den Männern vergleichbares Bildungs- und Qualifikationsniveau verfügen. Frauen wollen ihre Fähigkeiten und Anliegen in Familie und Beruf, im privaten und im öffentlichen Leben verwirklichen. Sie wollen dabei bezahlte und die überwiegend von ihnen geleistete unbezahlte Arbeit mit Männern teilen und in allen Bereichen partnerschaftlich mit ihnen zusammenarbeiten. Dies setzt nicht nur einen Wandel in den Beziehungen und Verhaltensweisen von Männern und Frauen voraus. Erforderlich sind ebenso strukturelle Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebenssituationen von Männern und Frauen, von Vätern und Müttern gerecht werden.

(202) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die bisher einseitig zu Lasten der Frauen ging, muß für Frauen und Männer gleichermaßen möglich sein. Das schließt die vermehrte Beteiligung der Männer an der Haus- und Familienarbeit ein, verlangt aber auch besondere Bemühungen, die Familienarbeit in verstärktem Maße als gleichrangig neben der Erwerbsarbeit anzuerkennen. Die Chancen bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit, der beruflichen Aus- und Fortbildung und vor allem bei der Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit im Anschluß an die Kindererziehungsphase sind zu verbessern. Aufstiegschancen dürfen dabei nicht beeinträchtigt werden. Die eigenständige soziale Sicherung der Frauen ist schrittweise zu verwirklichen. Nur so ist eine tatsächliche Wahlfreiheit der Lebensgestaltung für Frauen und Männer möglich.

(203) Berufe, in denen überwiegend Frauen tätig sind, sollten in finanzieller und gesellschaftlicher Hinsicht aufgewertet werden. Gezielte Aus- und Weiterbildung sollte verstärkt werden, um Frauen ein breiteres Berufsspektrum zu öffnen und somit die geschlechtsspezifische Spaltung insbesondere auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden. Dadurch kann auch einer rascheren Entlassung von Frauen in die Arbeitslosigkeit entgegengewirkt werden, die sich durch die fortschreitende Modernisierung im Produktions- und Dienstleistungsbereich ergibt. Insbesondere sind Maßnahmen zu unterstützen, die den Anteil der Frauen in Entscheidungspositionen im Bildungswesen und in den Medien, in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sowie in der Kirche erhöhen. In allen diesen Bereichen sollten personelle und organisatorische Möglichkeiten geschaffen werden, durch die Frauen stärker an den Gestaltungsaufgaben und Entscheidungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik beteiligt werden.

 

5.2.2.3 Zukunftschancen der Jugendlichen sichern

(204) Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft bemißt sich nicht zuletzt daran, welche Perspektiven und Zukunftschancen sie ihrer Jugend gibt. Es geht um die Fragen: Wachsen junge Menschen in einem menschlichen Klima und unter günstigen Bedingungen auf? Erfahren sie die nötige Zuwendung, Annahme, Akzeptanz und Förderung? Haben sie die Möglichkeit, in die Gesellschaft hineinzuwachsen, gehört und beteiligt zu werden und einen beruflichen Weg anzustreben, der ihren Neigungen und Möglichkeiten entgegenkommt? Haben sie Chancen am Arbeitsmarkt? Ausgaben für Bildung und Ausbildung sind Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft. Neben der Wissensvermittlung sind die Persönlichkeitsentwicklung und die Stärkung der Eigenverantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit gleichgewichtige Ziele, auf deren Einhaltung und Verwirklichung Jugendliche einen Anspruch haben.

(205) Die hohe Arbeitslosigkeit und die bestehenden Schwierigkeiten beim Zugang zu Ausbildungsplätzen und zum Arbeitsmarkt stellen für Jugendliche eine erhebliche Belastung dar, die sie empfindlicher als Erwachsene in vergleichbarer Situation trifft. Um so notwendiger ist es, für Jugendliche ein angemessenes und differenziertes Angebot an Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen. Junge Menschen erwarten zu Recht, daß sie über Ausbildung und Beruf eine ökonomische und soziale Perspektive entwickeln können, die ihnen ein sinnvolles und eigenverantwortliches Leben ermöglicht.

(206) Das duale System in der Berufsausbildung hat sich in Deutschland bewährt. Es muß erhalten werden. Grundlage hierfür muß sein, daß im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft die Arbeitgeber - Wirtschaft, öffentliche Hand, Kirchen und Verbände - ihrer Verpflichtung zur Ausbildung im notwendigen Umfang nachkommen. Eine besondere Verantwortung tragen hier die Tarifvertragsparteien. Wenn Appelle und Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, ist es Aufgabe der Politik, im Interesse der Jugendlichen steuernd einzugreifen, um möglichst allen ausbildungssuchenden Jugendlichen eine entsprechende Ausbildung zu ermöglichen. Das System der beruflichen Bildung ist zu einem ganzheitlichen System beruflicher Aus- und Weiterbildung weiterzuentwickeln mit dem Ziel, dauerhafte Beschäftigungen zu erreichen und auch während der Ausübung einer Beschäftigung anerkannte Berufsabschlüsse nachholen zu können. Es müssen neue Berufsbilder in zukunftsorientierten Arbeitsfeldern entwickelt und fortgeschrieben werden. Eine qualifizierte Berufsberatung muß den Jugendlichen möglichst früh Hilfestellung zu einer beruflichen Orientierung geben.

(207) Die Förderung von Mädchen und jungen Frauen ist integraler Bestandteil des dualen Systems mit dem Ziel möglichst hoher Qualifizierung. Die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ist ein weiterer wichtiger Baustein zur Entwicklung eines ganzheitlichen Systems der beruflichen Bildung. Dazu gehören eine bessere Ausstattung der Berufsschulen, die Erleichterung des Erwerbs von Fachhochschul- und Hochschulzugangsberechtigungen im Rahmen der beruflichen Ausbildung und die bessere Anbindung und Verzahnung der Abschlüsse des beruflichen Bildungssystems mit den Systemen der Allgemeinbildung. Für benachteiligte Jugendliche, vor allem lernschwache, sind die bewährten Instrumente aus dem Arbeitsförderungsgesetz zu erhalten und auszubauen.

(208) Wenn in den heute diskutierten Fragen der Wirtschafts- und Sozialordnung in Deutschland ein neuer Konsens erreicht werden soll, der auch zukünftig tragfähig ist, dann müssen junge Menschen stärker in die Mitverantwortung einbezogen werden. Nicht zuletzt benötigen Jugendliche in ausreichendem Maße angemessen ausgestattete Orte mit hohem Selbstbestimmungsgrad in der Jugend- und Jugendverbandsarbeit, durch die sie Zugehörigkeit erfahren, die eigene Persönlichkeit entwickeln und eigenverantwortliches, solidarisches Handeln lernen können.

 

5.2.2.4 Die Einheit Deutschlands mit Leben erfüllen

(209) Die Gestaltung der inneren Einheit Deutschlands ist eine bleibende Aufgabe. Sie kann nicht als ein in absehbarer Zeit abzuschließender Prozeß verstanden werden. Es geht dabei nicht um das Erreichen eines Gleichstandes auf allen Gebieten, sondern um die Gestaltung einer gemeinsamen sozialen Gesellschaft in ganz Deutschland, die jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglicht, Benachteiligungen von Menschen und Regionen abbaut und sich in besonderer Weise den Schwachen zuwendet. Mit der Aufgabe, die Trennungen zwischen Ost und West in Deutschland abzubauen und gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen, geht es auch um die Überwindung von krassen Ungleichheiten. Die Aufgabe, solche Ungleichheiten zu beseitigen, betrifft nicht nur das Ost-West-Verhältnis, sondern gilt für Deutschland insgesamt.

(210) Weder die Menschen noch die Wirtschaft in den neuen Ländern waren auf die abrupt eingeführten marktwirtschaftlichen Bedingungen vorbereitet. Den vielfältigen positiven Aspekten stehen neue Ungerechtigkeiten und wirtschaftliche Probleme gegenüber. Der tiefgreifende Umbruch in der gesamten Lebenskultur der Menschen ist in Ostdeutschland noch längst nicht verarbeitet und mancherorts in Westdeutschland noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden. Es handelt sich um eine gemeinsame geschichtliche Last in der Folge der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft und des Zweiten Weltkriegs.

(211) Die Entwicklung im vereinigten Deutschland ist zum Teil widersprüchlich verlaufen: Einerseits ist es zu beeindruckenden Aufbauleistungen und Solidaritätserweisen gekommen, die bis zum heutigen Tag anhalten. So belaufen sich die bis Ende 1996 in die neuen Länder geflossenen Nettotransferleistungen auf rund 750 Mrd. DM. Dies hat, gerade im Vergleich mit den anderen östlichen Ländern, die einen ähnlich drastischen wirtschaftlichen Zusammenbruch erlebt haben, für einen enormen Aufschwung gesorgt. Die meisten Menschen in den östlichen Bundesländern bestätigen das, indem sie eine deutliche Verbesserung ihrer persönlichen, materiellen Lage wahrnehmen. Andererseits haben Dankbarkeitserwartungen, unerbetene Ratschläge, westliches Unverständnis und die vielen ungelösten Probleme zu Unbehagen und zum Teil auch Spannungen geführt. Obwohl die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse noch längere Zeit beanspruchen wird, muß es schon jetzt gelingen, Vorbehalte und Unverständnisse zwischen Ost und West abzubauen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken.

(212) Die vielfältigen Belastungen, die durch den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems der DDR und die gesamtgesellschaftlichen Umbrucherscheinungen entstanden sind, werden vorerst noch anhalten und Transferleistungen und andere solidarische Formen von Unterstützung auf allen Ebenen auch weiter dringend erforderlich machen. Notwendig sind vor allem verstärkte Investitionen zum Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen. Wichtig ist aber auch, daß es im Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht zu weiteren Kürzungen kommt. Durch solche Kürzungen würden oft genug gerade denen Chancen versagt, die arbeitsfähig, arbeitswillig und qualifiziert sind und unverschuldet arbeitslos wurden. Das Gefühl der Chancenlosigkeit birgt die Gefahr von Resignation und Verzweiflung in sich und vertieft die Spaltung in der Gesellschaft.

(213) Die deutsche Vereinigung eröffnet für viele Menschen neue Chancen und Perspektiven. Die weit überwiegende Mehrheit der Menschen in Ost und West ist dankbar für die Wende. Es gibt kaum jemanden, der das Rad der Geschichte zurückdrehen möchte. Die Vereinigung Deutschlands ist nicht zuletzt das Ergebnis des bewußten Kampfes der Menschen im Osten für eine parlamentarische Demokratie und des Aufbegehrens gegen Bevormundung und Mißwirtschaft. Nun sind alle gefordert, die innere Einheit mit Engagement und Phantasie zu gestalten: Regierungen, Gewerkschaften, Verbände, Institutionen und nicht zuletzt die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Es ist eine Aufgabe ohne Vorbilder und vergleichbare geschichtliche Erfahrungen. Dabei ist es die Aufgabe auch der Kirchen, Hilfe für den Dialog und das gegenseitige Verständnis anzubieten und für Solidarität einzutreten. Eine eigenständige und von einer besonderen Geschichte und kulturellen Tradition geprägte Entwicklung muß differenziert wahrgenommen werden.

(214) Die innere Einheit kann nur gelingen, wenn sich die Menschen in Ost und West als solidarische Gemeinschaft verstehen. Sie müssen im Interesse des Ganzen bereit sein, entsprechend ihren Möglichkeiten auch über einen längeren Zeitraum Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Die unvermeidlichen Opfer und Belastungen müssen gerecht verteilt werden, ohne dabei die Leistungsfähigkeit von Staat und Wirtschaft zu gefährden.

 

5.2.2.5 Eine gerechtere Vermögensverteilung schaffen

(215) Privateigentum und damit Privatvermögen sind konstitutive Elemente der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland und dienen der eigenen Daseinsvorsorge ebenso wie der gesamtwirtschaftlichen Kapitalbildung. Die Vermögenserträge ergänzen die Einkommen aus Arbeit. Vermögen und Vermögenserträge ermöglichen zugleich eine ergänzende Altersvorsorge und Vorsorge für Notfälle.

(216) Die Kirchen setzen sich deshalb seit langem für eine gerechtere und gleichmäßigere Verteilung des Eigentums und nicht zuletzt für eine verstärkte Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen ein. Das Ziel einer sozial ausgewogeneren und gerechteren Vermögensverteilung in Deutschland ist bei weitem nicht erreicht. Auch wenn es in bestimmten Bereichen der Vermögensbildung (z. B. Bildung von Geldvermögen und Wohneigentum) unbestreitbar Fortschritte gegeben hat, nimmt die Konzentration der Vermögen auf die einkommens- und vermögensstarken Schichten zu, der Abstand zwischen den reichen Haushalten auf der einen Seite und den Haushalten, die über ein bescheidenes oder gar kein Vermögen verfügen, auf der anderen Seite wird größer.

(217) Noch einmal verschärft gegenüber der Situation in den alten Bundesländern stellt sich die Vermögensverteilung in den neuen Bundesländern dar. Nicht nur, daß der Anteil der privaten Haushalte in den neuen Bundesländern am Produktivvermögen verständlicherweise aufgrund der bisherigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung extrem gering ist. Auch ihre Geldvermögens- und Wohneigentumsbildung ist aus den gleichen Gründen niedriger als in den alten Bundesländern. Es hat sowohl beim Immobilien- wie vor allem beim Produktivvermögen eine Verschiebung in westdeutsche Hände auf breiter Basis gegeben. Etwa 80 % der Privatisierungen durch die Treuhand-Anstalt gingen an westdeutsche Unternehmen. Es ist versäumt worden, den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern und die Investitionsförderung sowie die Angleichung der Löhne und Gehälter mit dem Ziel einer breiten Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen zu verbinden und auch so zu einer gerechteren Vermögensverteilung beizutragen.

(218) Um insbesondere Fortschritte im Sinne einer breiteren Streuung des Produktivkapitals zu erreichen, ist eine sachgerechte Fortentwicklung und Ausgestaltung der vermögenspolitischen Rahmenbedingungen dringlich. Dies gilt heute um so mehr, als sich das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit auch im Blick auf die Einkommen mehr und mehr zu Lasten der Arbeit verschiebt. Die Kirchen und kirchlichen Verbände und Organisationen haben eine Vielzahl von Initiativen und Modellen entwickelt, wie die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen verstärkt und damit zugleich dazu beigetragen werden kann, Investitionen zu erleichtern, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen und so auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse zu festigen. Sie haben gleichzeitig Grundsätze und Kompromißlinien aufgezeigt, wie sich bestehende Hindernisse insbesondere bei tarifvertraglicher Vermögensbildung aus dem Weg räumen lassen. Es ist primär die Aufgabe der Tarifvertragsparteien, sich zu solchen Vereinbarungen bereitzufinden und damit einen Durchbruch bei der Kapitalbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erreichen. Aber auch der Staat muß dabei seine Verantwortung wahrnehmen.

(219) Verläßliche Daten über die Vermögensverteilung und -entwicklung in Deutschland liegen in ausreichendem Umfang nicht vor. Während es eine regelmäßige Berichterstattung über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung sowohl durch den Sachverständigenrat als auch durch die Konjunkturforschungsinstitute gibt, fehlt eine solche regelmäßige Berichterstattung für den hochkomplexen Bereich der Einkommens- und Vermögensverteilung. Informationen darüber sind unerläßlich, um notwendige Entscheidungen im Beziehungsgeflecht des steuerlichen und sozialen Leistungs- und Verteilungssystems sachgerecht vorbereiten und Effizienz und Gerechtigkeit von getroffenen Maßnahmen überprüfen zu können. Es bedarf deshalb nicht nur eines regelmäßigen Armutsberichts, sondern darüber hinaus auch eines Reichtumsberichts.

(220) Nicht nur Armut, sondern auch Reichtum muß ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig die Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird. Es geht deshalb nicht allein um eine breitere Vermögensbildung und -verteilung. Aus sozialethischer Sicht gibt es auch solidarische Pflichten von Vermögenden und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Die Leistungsfähigkeit zum Teilen und zum Tragen von Lasten in der Gesellschaft bestimmt sich nicht nur nach dem laufenden Einkommen, sondern auch nach dem Vermögen. Werden die Vermögen nicht in angemessener Weise zur Finanzierung gesamtstaatlicher Aufgaben herangezogen, wird die Sozialpflichtigkeit in einer wichtigen Beziehung eingeschränkt oder gar aufgehoben. In einer Lage, in der besondere Aufgaben - wie etwa die Finanzierung der deutschen Einheit - in großem Umfang durch die Aufnahme von Staatsschulden finanziert werden müssen, sollten stärker die Vermögen herangezogen werden. In welcher Form das gerecht und verfassungsgemäß geschehen kann, ist zu prüfen.

 

5.2.2.6 Eine neue Sozialkultur fördern

(221) Tempo und Ausmaß des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels verändern Selbstverständnis, Formen und Wirkungsweise der traditionellen Sozialkultur. Diese Veränderungen beeinträchtigen die sozialen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke, ohne die Wirtschaft und Gesellschaft nicht existieren können. Notwendig ist eine neue Besinnung auf die Sozialkultur. In ihr liegt ein großes Potential für soziale Phantasie und Engagement. Den vorhandenen ethischen und sozialen Ressourcen in der Gesellschaft muß mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt werden. Dies betrifft vor allem soziale Netzwerke und Dienste, lokale Beschäftigungsinitiativen, ehrenamtliches Engagement und Selbsthilfegruppen.

(222) Der Staat muß auf allen Ebenen durch die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen seinen Beitrag dafür leisten, daß diese Initiativen sich entfalten können. Vorrangig ist die öffentliche Anerkennung ehrenamtlicher Tätigkeit. Freiwillige und unentgeltliche Dienstleistungen könnten mit Gegenleistungen wie z. B. Aufwandsentschädigungen, Weiterbildungsangeboten und Berücksichtigung bei der Bewerbung um einen Erwerbsarbeitsplatz sowie Gutscheinen (etwa für die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen bei eigenem Bedarf) honoriert werden. Freistellungen im Beruf sollten erleichtert werden. Wer sich in der Jugendarbeit betätigt hat, könnte bei der Vergabe von Studien- oder Ausbildungsplätzen bevorzugt werden. Eine Haftung für Schäden, die im ehrenamtlichen Dienst entstehen, wäre sinnvoll. Es könnte auch an ein Bildungskonto gedacht werden, das der Staat für junge Menschen einrichtet, dem das Zeitbudget entsprechen würde, das junge Menschen - irgendwann in ihrem Leben - dem Gemeinwesen zur Verfügung stellen.

(223) Ein unersetzliches Gut der Sozialkultur ist der Sonntag. Der Schutz des Sonntags ist immer mehr dadurch bedroht, daß ihm ökonomische Interessen vorgeordnet werden. Der Sonntag muß geschützt bleiben. Als Tag des Herrn hat er einen zentralen religiösen Inhalt. Er ist auch gemeinsame Zeit der Familie, der Freunde und Nachbarn und damit ein wichtiges kulturelles Gut, das nicht zur Disposition gestellt werden darf. 10

 

5.3 Den ökologischen Strukturwandel voranbringen

(224) Nachhaltige Entwicklung ist vom Selbstverständnis her ein Wirtschaftskonzept mit verteilungspolitischem Anspruch. Als Verteilungsregel sollte gelten: Recht und Billigkeit der Ressourcennutzung müssen sowohl unter der jetzt lebenden Weltbevölkerung als auch im Ablauf der Generationen gewährleistet sein. Die natürlichen Lebensgrundlagen sollen im Interesse der nachfolgenden Generationen erhalten werden. Von der belasteten bzw. zerstörten Umwelt sollte so viel wie möglich wiederhergestellt werden.

(225) Die Grundbedingung für eine zukunftsfähige Entwicklung ist die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, auf denen die menschliche Existenz beruht. Um die Tragekapazität der ökologischen Systeme nicht zu überschreiten, können der Natur nicht unbegrenzt Rohstoffe entnommen werden und nur so viele Rest- und Schadstoffe in sie eingebracht werden, wie sie ohne Schaden aufzunehmen vermag. Im Blick auf Rohstoffe, die nicht oder nur langsam nachwachsen, müßte ein entsprechender Ersatz geschaffen werden. Dieses Konzept läßt es offen, ob die Erhaltung der Umweltfunktionen eher durch Einsparungen oder durch eine verbesserte Ausnutzung erreicht wird.

(226) Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Wirtschaft gilt es, den Ressourcenverbrauch und die Umweltbelastungen von der wirtschaftlichen Entwicklung weiter und deutlicher abzukoppeln, als dies bisher der Fall war, und die Produktionsprozesse von Anfang an in die natürlichen Kreisläufe einzubinden. Die ökonomischen Prozesse sind letztlich Teil der ökologischen Systeme, aus denen die Rohstoffe entnommen und in denen die Abfallstoffe verarbeitet werden müssen. Eine „Langzeitökonomie" muß sich also um die Erhaltungsbedingungen dieser ökologischen Voraussetzungen wirtschaftlichen Handelns und deren spezifische Gesetzmäßigkeiten kümmern. Grundsätzlich angezeigt sind damit naturangepaßte Stoffströme und Energiegewinnung, so weit wie möglich abgeschlossene, störungsfreie technische Eigenkreisläufe und deren Einfügung in den Stoffwechsel der Natur. Darüber hinaus bedeutet dies, daß Abfälle und Reststoffe nach dem Ende ihrer Gebrauchszeit so weit wie möglich wiederverwendet werden müssen. Zudem muß bei der Entwicklung und Produktion von Gütern vermehrt auf Langlebigkeit und Reparaturfreundlichkeit geachtet werden. Damit würde der Anteil der Reparatur und der Kundenbetreuung an der Wertschöpfung - in der Regel dezentral organisierte und arbeitsintensive Sektoren der Wirtschaft - steigen, die Bedeutung der Produktion sinken.

(227) Weiterhin ist es erforderlich, die wirtschaftliche Strukturanpassung des Steuersystems für ökologische Ziele zu nutzen, wie dies in der Steuerdebatte in den Gremien der Europäischen Union gegenwärtig gefordert wird. Ein seit langem diskutierter pragmatischer Vorschlag, der in seinen ökologischen, ökonomischen und sozialen Konsequenzen unterschiedlich eingeschätzt wird, besteht darin, diesen Anpassungsprozeß durch eine umweltgerechte Finanzreform (Abschaffung umweltschädlicher Subventionen, Energie- und CO2-Steuern zugunsten einer Entlastung der Lohnnebenkosten) zu unterstützen. Von einer solchen Finanzreform könnte nach Meinung ihrer Befürworter gleichzeitig ein beschäftigungsfördernder Anreiz ausgehen, da die gegenwärtig primär auf den Faktor Arbeit konzentrierte Belastung breiter gestreut und gleichzeitig das Energiesparen belohnt würde. In jedem Falle sollte der Staat im notwendigen Umfang durch Abgaben, Auflagen und Haftungsregelungen, aber auch finanzielle Anreize Rahmenbedingungen setzen, die ein ökologisch verträgliches Wirtschaften und damit einen vorsorgenden Umweltschutz unterstützen und begünstigen.

(228) Für die Erarbeitung einer umfassenden Strategie nachhaltiger Entwicklung sind besonders wichtige und auch sensitive Bereiche der Energiesektor, die chemische Industrie, die Landwirtschaft und der Verkehr. Energiepolitik muß durchgängig vom Prinzip der Risikobegrenzung geleitet werden, und zwar sowohl im Blick auf die Umwelt als auch im Blick auf die Gesundheit und die Sicherheit von Menschen. Ein zweites leitendes Prinzip ist das der Energieeffizienz, die durch eine breite Palette von Einzelmaßnahmen - von der für die Wirtschaft langfristig kalkulierbaren Verteuerung der Energie bis zur Förderung der Forschung und Entwicklung regenerativer Energieträger - gestärkt werden muß. Ähnliches gilt für die chemische Industrie, bei der eine Veränderung der Politik sich nicht nur auf die Emissionen bei der Produktion, sondern auch auf die Produkte selbst beziehen muß.

(229) Zu einer dauerhaften Verbesserung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Erhaltung einer umwelt- und naturgerechten Landschaft in ihrer Vielfalt gehört die stärkere ökologische Ausrichtung der Landwirtschaft. Dies schließt insbesondere ökologisches Verantwortungsbewußtsein bei der Erzeugung von Nahrungs- und Futtermitteln, dem Erhalt der natürlichen Bodenfruchtbarkeit, einer artgerechten Tierhaltung, der Sicherung des Artenreichtums, der Pflege des Waldes, der Reinhaltung des Wassers und der Bewahrung der vielfältigen Kulturlandschaft ein. Traditionell werden diese Leistungen von einer bäuerlich geprägten, neuerdings auch biologischen Landwirtschaft erbracht, die es deshalb auch durch tragfähige und sachgerechte politische Rahmenbedingungen zu fördern und zu erhalten gilt. Die Bauern und Forstwirte erbringen durch die Pflege der Kulturlandschaft wichtige gesamtgesellschaftliche Leistungen, die nicht über den Marktpreis der Produkte abgegolten werden. Die noch vorhandenen zahlreichen bäuerlichen Familienbetriebe brauchen eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage und Zukunftsperspektive, um weiterhin existieren zu können und auch der kommenden Generation noch eine Existenzgrundlage zu erhalten.

(230) Im Bereich des Verkehrs stellen das ständig wachsende Verkehrsaufkommen und der damit einhergehende weitere Ausbau der Verkehrsinfrastruktur eine enorme Belastung des Klimas, der Landschaft sowie der Gesundheit vieler Menschen dar. Notwendige Reformen müssen auf die Verkürzung der Wege, Verlagerungen des Verkehrs auf umweltfreundlichere Transportmittel und eine umweltgerechte Überprüfung und Ausrichtung der Transportkosten zielen. Nötig ist aber auch, daß die Verkehrsteilnehmer ihr Mobilitätsverhalten und ihren Lebensstil ändern.

(231) Änderungen des Lebensstils, die Verzichte einschließen, sind aber auch in vielen anderen Bereichen notwendig. Notwendig ist der Übergang von Raubbau und Wegwerfmentatität zu langfristig tragbaren Wirtschafts- und Lebensweisen. Bei vielen der wohlhabenden Menschen in den westlichen Überflußgesellschaften ist überzogenes Konsum- und Wohlstandsdenken vorherrschend. Diese Haltung gerät zunehmend in Konflikt mit den Grenzen der ökologischen Belastbarkeit und geht zu Lasten der Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen und zu Lasten der Menschen in den sich entwickelnden Ländern. So wird das Ziel der Nachhaltigkeit ganz sicher verfehlt, wenn das durchschnittliche Konsumniveau in den Industrieländern weiter steigt. Deshalb muß das Bewußtsein dafür steigen, daß mehr Lebensqualität heute kaum noch durch „mehr" und „schneller" zu erreichen ist, sondern in wachsendem Maße durch „weniger", „langsamer" und „bewußter". Derart veränderte Lebensstile werden sich vermutlich nur dann verbreiten, wenn deutlich wird, daß ein Leben, das die Mit- und Umwelt schont, neue Qualitäten hat.

(232) Gerade bei der Aufgabe, die vielfältigen Dimensionen dessen bewußtzumachen, was wirklich den Namen „Wohlstand" verdient, was also dem dauerhaften Wohl des Menschen dient, können die Kirchen einen wichtigen Beitrag leisten: Ein christliches Leben bietet vielfältige Ansätze für eine Kritik der Gleichsetzung von „gut leben" und „viel haben". Die vielfältigen Bedürfnisse des Menschen werden nicht einfach durch höchstmöglichen Konsum befriedigt. Die Umkehr zu einem einfacheren Lebensstil kann zu einem Gewinn an Lebensqualität und kultureller Entfaltung führen. Zugleich sollte aber nicht verschwiegen werden, daß eine an der Verantwortungsfähigkeit des Menschen orientierte dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung für den einzelnen auch die Bereitschaft zu persönlichem Verzicht einschließt.

 

5.4 Die europäische Einigung vertiefen und erweitern

(233) In den kommenden Jahren steht die europäische Politik vor entscheidenden Weichenstellungen. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben sich im Grundsatz für eine Erweiterung der Union um eine Reihe von mittel- und osteuropäischen Staaten sowie Zypern entschieden. Diese Erweiterung ist nicht nur eine politische Notwendigkeit. Sie bietet auch erhebliche Chancen für Europa. Die Mitgliedsstaaten stehen derzeit vor der Aufgabe, institutionelle Voraussetzungen für eine handlungsfähige Union mit 25 oder mehr Mitgliedern zu schaffen. Hierbei kommt es entscheidend darauf an, das Ziel der Erweiterung mit Schritten einer vertieften Integration zu verbinden. Es geht um Fragen der politischen Handlungsfähigkeit der Union in der Außen- und Sicherheitspolitik, um eine gemeinschaftliche Innen- und Rechtspolitik und um die verbindliche Geltung von Grund- und Menschenrechten auf Unionsebene. Zu den Kernfragen gehört, ob die Mitgliedstaaten bereit sind, sich grundsätzlich vom Prinzip der einstimmigen Entscheidung zu lösen und Mehrheitsentscheidungen in politisch sensiblen Bereichen zu akzeptieren. Es geht um die Entscheidung zwischen nationalstaatlicher Souveränität und gemeinschaftsrechtlicher Zuständigkeit in zentralen Politikbereichen.

(234) Die Sozialpolitik zählt in der Europäischen Union nach wie vor zu den besonders kontroversen Themen. Es ist notwendig, daß die im Vertrag von Maastricht definierten Bereiche einer europäischen Sozialpolitik künftig für alle Mitgliedsstaaten der Union verbindlich gelten. Die Mitgliedsstaaten sind insbesondere uneins in der Frage eines weiteren Ausbaus verbindlicher sozialer Mindestregeln für alle EU-Staaten. Dieser Ausbau ist eine wichtige Voraussetzung für gleiche Wettbewerbsbedingungen und eine stärkere Konvergenz der sozialen Sicherung sowie eine Ermutigung für die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, sich durch den Aufbau eigener sozialer Systeme auf ihren Beitritt zur Europäischen Union vorzubereiten. Hierbei ist darauf zu achten, daß soziale Mindeststandards bei notwendiger Vermeidung einer Überforderung weniger entwickelter Staaten nicht zu einer Einigung auf dem niedrigsten Niveau und damit zu einer potentiellen Aushöhlung der nationalen sozialstaatlichen Gewährleistungen führen.

(235) Zu den wichtigsten Aufgaben zählt die Einführung einer dauerhaft stabilen und einheitlichen europäischen Währung. Was immer man gegen dieses Vorhaben einwenden mag, die gemeinsame Währung ergänzt notwendig den europäischen Binnenmarkt, der erst dann seine volle Wirkung wird entfalten können, wenn auch gleichzeitig ein einheitlicher Finanzmarkt besteht. Eine einheitliche und dauerhaft stabile Währung vermag nicht nur eine verläßliche Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Ausgleich auf europäischer Ebene zu bieten, sondern ist gleichzeitig auch ein Beitrag zu einer stabilen internationalen Währungsordnung und Voraussetzung dafür, daß die europäische Integration insgesamt gelingt. Wesentlich ist, daß bei notwendigen Veränderungen und Umverteilungen der soziale Schutz für die Schwächeren nicht preisgegeben und die Lasten sozial gerecht von allen getragen werden.

(236) Vieles ist bereits erreicht. Für einen großen Teil der Bevölkerung in Westeuropa sind gestiegener Wohlstand, grenzüberschreitende Niederlassungsmöglichkeiten und kontrollfreie Reisemöglichkeiten selbstverständlich geworden. Annähernd 50 Jahre europäischer Integrationspolitik haben es jedoch nicht vermocht, ein ausgeprägtes europäisches Gemeinschaftsbewußtsein und eine gemeinsame europäische Identität zu entwickeln. Die Kirchen in Deutschland sehen es als eine wichtige Aufgabe an, im Zusammenwirken mit ihren ökumenischen Partnern in Europa dazu einen Beitrag zu leisten. Das Bewußtsein eines versöhnten Miteinanders in aller Verschiedenheit, die Fähigkeit, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen, und der Wille, die Zukunft Europas gemeinsam zu gestalten, sind erforderlich, um die Herausforderungen an der Schwelle zum Jahr 2000 zu meistern.

 

5.5 Verantwortung in der Einen Welt wahrnehmen

(237) Mehr und mehr haben die Menschen erkannt, wie notwendig ein solidarisches und verantwortliches Miteinander der Staaten der Völkergemeinschaft ist. Dies hat zu zahlreichen inter- und supranationalen Vereinbarungen geführt. Auch die weniger entwickelten Länder, die nur wenig weltpolitische Gestaltungskraft besitzen, werden mehr und mehr in die Gesamtverantwortung eingebunden, denn das Weltgemeinwohl kann nicht allein durch jene besonders wirtschaftsstarken Nationen gewährleistet werden, die sich zur sog. G7-Gruppe zusammengeschlossen haben. Insbesondere versuchen die großen UN-Weltkonferenzen, das Bewußtsein für die Gesamtverantwortung aller Staaten zu wecken und den Kampf gegen Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung zur gemeinsamen Aufgabe zu machen. Nationale Wege, so wichtig sie im einzelnen auch sein mögen, reichen in einem System internationaler Arbeitsteilung nicht mehr aus.

(238) Inzwischen gibt es Ansätze eines solidarischen Verhaltens im Handels- und Umweltrecht, bei der Bekämpfung der Kriminalität, bei der Hilfe in Währungsturbulenzen, in Katastrophenfällen, in der Gesundheitspolitik, in der Sicherheitspolitik, bei der Bewältigung von Migrationsströmen, im Kampf gegen Erosion und Versteppung, beim Schutz der Meere, in Sicherheitsfragen der Nuklearenergie, bei der Nichtverbreitung von Kernwaffen und anderem mehr. Eine solidarische Weltgesellschaft muß also nicht neu erfunden werden, sondern kann an diese Ansätze anknüpfen.

(239) Einigkeit besteht weitgehend darin, daß die Regierungen in den armen Ländern aufgefordert sind, durch situationsgerechte interne Rahmenbedingungen eine sozial und ökologisch verträgliche Entwicklung in ihren Ländern zu fördern. Das gelingt aber nur, wenn Industrieländer wie die Bundesrepublik Deutschland, die eine erhebliche Leitbildfunktion haben, Modelle zukunftsorientierten Wirtschaftens anbieten und durch ihr außenwirtschaftliches Verhalten stützen.

(240) Es zeigt sich ein gefährlicher Trend, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation die Mittel zu kürzen, mit denen bislang der soziale Sprengstoff zwischen Nord und Süd entschärft werden sollte. Noch immer entwickelt die Schuldenkrise in einer Reihe von Ländern des Südens eine gefährliche Eigendynamik und zerstört, was mit Entwicklungshilfe aufgebaut werden soll.

(241) Hinzukommen müssen weitreichendere internationale Absprachen und Vereinbarungen. Notwendig erscheinen eine Verbesserung des internationalen Rechts (vor allem im Handelsrecht und im Kartellrecht), ein entschlossener Abbau von Protektionismus, Schritte zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht und die Entwicklung eines internationalen Sozialrechts, wie dies in den Regelungen zur Zwangsarbeit, zur Kinderarbeit u.ä. bereits begonnen wurde. Ferner ist die internationale sozial- und entwicklungspolitische Kooperation auszuweiten. Es geht darum, die internationale Entwicklung unter den Primat der Politik zu bringen und einen Ordnungsrahmen mit wirksamen Sanktionen und Instrumenten zu schaffen. Sie sollten der gemeinsamen Verantwortung für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit auf internationaler Ebene einen neuen Stellenwert geben.

(242) Verantwortung für die Eine Welt wahrnehmen bedeutet,

  • daß alle nationalen Entscheidungen auch aus der Sicht dieser Einen Welt zu treffen sind: Das gelingt nur, wenn die Entwicklungspolitik endlich Querschnittsthema der Gesamtpolitik wird und nicht nur Aufgabe eines einzelnen Ressorts bleibt;
  • daß die Entwicklungspolitik im europäischen Kontext besser koordiniert wird: Das ist durch das Kohärenzgebot und die Koordinierungsverpflichtung im Maastrichter Vertrag bereits vereinbart und sollte zügig realisiert werden;
  • daß die Gruppe der armen Länder in internationalen Gremien ein größeres Mitspracherecht erhält, so daß es ihnen leichter fällt, sich in Aufgaben für das Weltgemeinwohl einbinden zu lassen;
  • daß im Blick auf die mit den internationalen Finanzmärkten verbundenen Risiken verbesserte Aufsichts- und Kontrollmöglichkeiten über die auf diesen Märkten international Tätigen entwickelt werden. Neue internationale Absprachen über eine wirksamere Bankenaufsicht sind ansatzweise bereits eingeleitet. Eine verbesserte Aufsicht muß vor allem auch den Wertpapierhandel sowie die Fonds- und Versicherungsbranche einschließen;
  • daß im Rahmen einer international abgestimmten, kohärenten Flüchtlings- und Migrationspolitik die Ursachen und negativen Auswirkungen von Vertreibung, Flucht und Migration vermieden und entschärft werden. Jede Maßnahme, die unmittelbar auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern selbst, auf die Beseitigung der Armut, bessere Bildungschancen und eine lebenswerte Umwelt gerichtet ist, dient zugleich auch der Verminderung von Flucht- und Migrationsursachen.

 

6. Aufgaben der Kirchen

(243) Es genügt nicht, wenn die Kirchen die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und die Verhaltensweisen der darin tätigen Menschen thematisieren. Sie müssen auch ihr eigenes Handeln in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bedenken. Das kirchliche Engagement für Änderungen in der Gesellschaft wirkt um so überzeugender, wenn es innerkirchlich seine Entsprechung findet.

 

6.1 Das eigene wirtschaftliche Handeln der Kirchen

(244) Die Kirchen sind als Arbeitgeber, Eigentümer von Geld- und Grundvermögen, Bauherr oder Betreiber von Einrichtungen und Häusern auch wirtschaftlich Handelnde. Sie können nicht Maßstäbe des wirtschaftlichen Handelns formulieren und öffentlich vertreten, ohne sie auch an sich selbst und das eigene wirtschaftliche Handeln anzulegen. Mit Recht wird dies als eine Frage der Glaubwürdigkeit angesehen. Die Glaubwürdigkeitsforderung erledigt allerdings nicht die Auseinandersetzung mit den Einsichten und Forderungen, die eine Person oder Institution vertritt. Solche Einsichten und Forderungen behalten, wenn sie wohlbegründet sind, ihre Gültigkeit, auch wenn die, die sie vertreten, selbst an ihnen scheitern.

(245) Die Kirchen sind mit ihrer Diakonie und Caritas große Arbeitgeber. In dieser Rolle sind sie - nicht weniger und nicht mehr als andere Arbeitgeber - gefordert, Arbeitsverhältnisse familiengerecht zu gestalten (z. B. flexible Arbeitszeiten), für einen fairen Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einzutreten, den Grundsatz der Gleichstellung von Frauen und Männern zu beachten und für eine konsequente Umsetzung der Ordnungen für die Vertretung und Mitwirkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten zu sorgen. In jüngster Zeit sind die Kirchen durch Rückgänge bei den Einnahmen erstmals nach einer langen Phase der Expansion in die Lage geraten, die Zahl der Arbeitsplätze vermindern zu müssen. In dieser angespannten Situation sind alle gefordert, mit sozialem Verantwortungsbewußtsein, sozialer Phantasie und Flexibilität soziale Härten abzuwenden. Besondere Beachtung verdienen Vorschläge, die auf maßvolle Einschränkungen beim Gehalt von kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den mittleren und oberen Gehaltsgruppen zielen. Wo einschneidende Sparmaßnahmen unausweichlich sind, muß dem Teilen von Arbeit der Vorrang vor dem Abbau von Stellen und vor Entlassungen zukommen. Gehaltseinschränkungen und Stellenteilungen müssen allerdings in vernünftigem Rahmen und mit Augenmaß erfolgen. Eine gute und aufopferungsvolle Arbeit verlangt auch ihren gerechten Lohn.

(246) Die Kirchen verfügen, bei großen Unterschieden im einzelnen, über Geld- und Grundvermögen. Es dient insgesamt religiösen, sozialen und kulturellen Zwecken. Teile des Vermögens sind nicht oder kaum veräußerbar.

Bei der Entscheidung für Investitionen, der Auswahl von Geldanlageformen und der Zusammenarbeit mit Geschäftspartnern haben die Kirchen noch strengere Maßstäbe anzulegen als wirtschaftliche Unternehmen. Auch unterliegen die Kirchen einer besonderen Verpflichtung, in der Orientierung am Gemeinwohl Grundstücke für öffentliche und soziale Zwecke, vornehmlich für den sozialen Wohnungsbau gegebenenfalls in Erbpacht, zur Verfügung zu stellen, wie es vielerorts seit langem praktiziert wird.

(247) In ihrer Bautätigkeit, die heute vorrangig in Maßnahmen der Substanzerhaltung, der Renovierung und Sanierung besteht, müssen sich die Kirchen der Verantwortung für die investierten Mittel, aber auch für die Kulturlandschaft, die sie durch ihre Bauten mitprägt, bewußt sein. Bei kircheneigenen Zweckbauten, etwa Pfarrhäusern, ist auf Einfachheit der Ausstattung zu achten.

Die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen in kirchlichem Besitz sollte nach umweltgerechten und naturschonenden Kriterien erfolgen. Die Verantwortung für die Schöpfung soll darüber hinaus auch in der kirchlichen Bautätigkeit, in der Bewirtschaftung kirchlicher Einrichtungen und Häuser, bei der Durchführung kirchlicher Veranstaltungen und bei der Regelung von dienstlichen Reisen und ihrer Kosten wirksam werden. Die kirchlichen Umweltbeauftragten haben dafür zahlreiche konkrete Vorschläge unterbreitet.

 

6.2 Weltgestaltung und Verkündigung

(248) Der Konsultationsprozeß hat die Möglichkeit und die Notwendigkeit der kirchlichen Beteiligung am gesellschaftlichen Dialog über die wirtschaftliche Situation und die sozialen Spannungslagen der Gegenwart deutlich gemacht. Als Glaubensgemeinschaften verkündigen die Kirchen die biblische Botschaft von Gottes Zuwendung zu allen Menschen und Gottes Treue zu seiner Schöpfung. Als gottesdienstliche Gemeinschaften feiern sie Gottes gnädiges Erbarmen, das den Menschen immer wieder einen neuen Anfang schenkt. Als diakonische Gemeinschaften bemühen sie sich unmittelbar um Notleidende und Benachteiligte und setzen sich für die Verwirklichung einer solidarischen und gerechten Gesellschaft ein.

Die Kirchen leben und wirken mitten in der Gesellschaft und nehmen deshalb an ihren Umbrüchen und Entwicklungen teil. Sie werden dabei von ihrer Berufung zur Solidarität mit den Armen geleitet und folgen der Bewegung Gottes, der sich vorrangig den Armen, Schwachen und Benachteiligten zugewandt hat, damit alle „Leben in Fülle haben" (Joh 10,10).

(249) Die Kirchen stehen in der biblischen und christlichen Tradition von Recht und Erbarmen. Gott fordert die Menschen nachdrücklich dazu auf, aus Erbarmen zu handeln und sich für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen. Deshalb bemühen sich Christen um Arme, aber auch um gerechtere Strukturen in der Gesellschaft, die geeignet sind, Armut zu verhindern.

(250) Der diakonische und caritative Dienst an Menschen in Not gehört seit den Anfängen der Kirche zu ihren unveräußerlichen Kennzeichen und ist auch für die Zukunft verpflichtend.

Heute vollzieht sich der diakonische und caritative Dienst der Kirchen auf mehreren Ebenen. Im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen die großen Werke, auf evangelischer Seite das Diakonische Werk, auf katholischer Seite die Caritas. Mit ihrer Arbeit und ihren Initiativen sind sie in hohem Maße in den Dienst an der Gesellschaft einbezogen. Sie leisten mit ihren sozialen Einrichtungen, Kindergärten, Beratungsstellen, Sozialstationen, Rehabilitationseinrichtungen und vielem anderem mehr eine wirksame und unverzichtbare Hilfe für das Gemeinwesen. Für die Wahrnehmung dieser Aufgaben benötigen und erhalten die Kirchen staatliche Hilfen. In vielfältiger Gestalt gibt es kirchlich getragene soziale Betriebe, Werkstätten, Einrichtungen der Jugendarbeit, Baugruppen zur Renovierung von Sozialwohnungen oder Jugendheimen, Projekte „Neue Arbeit", Gruppen, die den Strukturwandel in einer Region begleiten, oder Treffpunkte für Angehörige verschiedener Generationen. Jüngste Änderungen der Sozialgesetzgebung, die die Erfüllung der sozialen Aufgaben und Dienstleistungen nach dem Marktprinzip umzugestalten versuchen, stellen Diakonie und Caritas vor erhebliche Probleme. Noch ist die weitere Entwicklung nicht zu übersehen. Alles diakonische Tun aber den Gesetzen des Marktes zu unterwerfen, ist weder der Sache noch den Menschen dienlich.

Um so wichtiger sind die Initiativen, die auf neue Herausforderungen reagieren und innovative Antworten geben. Die diakonische und caritative Arbeit der Kirchen hat sich über die Jahrhunderte immer wieder aus solchen Impulsen erneuert.

Von bleibender Bedeutung ist die Ebene der Kirchen- und Pfarrgemeinden. Diakonische und caritative Arbeit darf sich nicht auf die professionalisierten Dienste beschränken und darf nicht einfach an sie abgegeben werden. Kirchengemeinden, kirchliche Gruppen und Verbände haben besondere Möglichkeiten, mit ihrer sozialen, diakonischen oder caritativen Arbeit Impulse in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein zu vermitteln. Den Initiativen mit Arbeitslosen, arbeitslosen Jugendlichen, Armen und sozial Schwachen kommt gegenwärtig besondere Bedeutung zu. Sie begleiten diese Personenkreise und bieten Hilfen zur Wiedereingliederung an. Besuchsdienstkreise und Treffpunkte für Arbeitslose sind Ansatzpunkte dafür, die soziale Verantwortung der Gemeinden zu erhöhen. Es ist wichtig, daß Kirchengemeinden und Verbände mit Hilfe solcher Aktivitäten die sie umgebende soziale Wirklichkeit wahrnehmen und den sozial Benachteiligten in ihrer eigenen Mitte Aufmerksamkeit schenken. Entscheidend wird sein, daß Christen und Gemeinden nicht bei einzelnen diakonischen Aktivitäten und Maßnahmen stehen bleiben. Es geht um eine „neue Bekehrung zur Diakonie", in der die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Menschen, die Hilfe nötig haben, zur Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Christen werden.

(251) Der Horizont des Dienstes an Menschen in Not hat sich in den letzten Jahrhunderten fortschreitend erweitert. Nächstenliebe ist auch Fernstenliebe geworden. Das hat in kirchlichen Hilfswerken weltweiter Solidarität und entwicklungspolitischen Aktivitäten seinen Niederschlag gefunden.

Die Kirche ist ihrem Wesen nach weltweit, grenzüberschreitend. Sie verfügt über besondere Möglichkeiten, den Blick der Menschen für die Eine Welt zu öffnen und das Bewußtsein der Verantwortung über das eigene Land und Volk hinaus zu schärfen. Die ökumenische Zusammenarbeit mit Kirchen aus der ganzen Welt und die intensiven Partnerschaften mit Gemeinden und Ortskirchen erweitern den Gesichtskreis über den eigenen Kulturraum hinaus. Solche Kontakte erinnern zugleich an die Not des Südens und die wechselseitigen weltwirtschaftlichen Abhängigkeiten. Die Beteiligung der Kirchen am „konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" bedeutet eine umfassende Orientierung kirchlichen Handelns an den drängenden Aufgaben gesellschaftlicher Veränderung. In ökumenischer Zusammenarbeit stellen sich die Christen den großen Überlebensfragen der Menschheit. Das Engagement für die Länder des Südens führt zu neuen Anstößen auch im eigenen Bereich.

Direkte Hilfe wird insbesondere von den großen Werken wie „Adveniat", „Brot für die Welt", „Hoffnung für Osteuropa", „Misereor", „Missio" und „Renovabis" geleistet. Sie dienen aber nicht nur der Einwerbung von Spenden und ihrem fachkundigen Einsatz bei der Katastrophenhilfe oder längerfristigen Entwicklungsmaßnahmen, sondern ebenso der entwicklungs- und wirtschaftspolitischen Bewußtseinsbildung. Aufgrund ihrer direkten Kontakte in die betroffenen Länder und der in langjährigem Engagement erworbenen Erfahrungen sind die Kirchen zu einem wichtigen und geachteten Träger entwicklungspolitischer Projekte geworden. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Bemühungen der Kirchen in ihrer „Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung", den Dialog im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und der Friedensinitiativen zu verbessern.

Neben kirchlichen Finanzmitteln stehen für diese Aufgaben auch staatliche Gelder zur Verfügung. Die in den letzten Jahren bei den Kirchen spürbar werdenden finanziellen Engpässe machen es zunehmend schwierig, das bisherige Niveau der für die kirchlichen Entwicklungsdienste zur Verfügung gestellten Mittel aus Kirchensteuern zu halten. Die Kirchen erfahren hier im eigenen Bereich, welche Konflikte und Schmerzen mit Prioritätendebatten verbunden sind.

(252) Einige weitere Bereiche, in denen die Kirchen ihren Auftrag zur Weltgestaltung konkret wahrnehmen und weiterhin wahrnehmen müssen, seien nur kurz genannt:

  • Gemeinden und Kirchenkreise, Diözesen und Landeskirchen haben „Runde Tische sozialer Verantwortung" ins Leben gerufen. Dabei wird versucht, das Gespräch zwischen Vertretern und Vertreterinnen aus Politik und Verwaltung, insbesondere aus Sozialbehörden und Arbeitsverwaltungen, aus Kammern und Betrieben, Gewerkschaften und Unternehmervereinigungen, der Medien und nicht zuletzt der betroffenen Bevölkerungsgruppen über die sozialen Probleme vor Ort anzustoßen. Runde Tische bewähren sich in solchen Fällen, weil sie das Bewußtsein stärken, daß regionale Probleme wirtschaftlicher und sozialer Art nur gemeinsam bewältigt werden können.
  • Diese Mittlerrolle können die Kirchen um so leichter übernehmen, wenn sie einen kontinuierlichen und intensiven Kontakt mit der Arbeitswelt pflegen. Die Sorge gilt dabei den arbeitenden Menschen, einschließlich derer, die unternehmerische Verantwortung tragen, aber auch den Wandlungen der Arbeitswelt selbst. Die Kontakte dürfen nicht erst im Konfliktfall, etwa bei drohenden Betriebsschließungen, aufgenommen werden. Regelmäßige Besuche in Betrieben und regelmäßige Gespräche mit den Arbeitgeberorganisationen, dem Handwerk und den Gewerkschaften schaffen eine Basis des Vertrauens, auf der dann auch im Konfliktfall aufgebaut werden kann.
  • Die Kirchen engagieren sich gegen Ausländerfeindlichkeit und bemühen sich, zum Aufbau einer positiven Einstellung gegenüber Fremden in der Gesellschaft beizutragen. Dies geschieht, indem Begegnungen vor Ort initiiert und gemeinsame Veranstaltungen angeboten werden. Die Kirchen setzen sich, auch durch praktische Hilfe und Unterstützung, für eine bessere soziale Integration ein. Vor allem beteiligen sie sich an der Sorge um ausländische Kinder und Jugendliche. Sie treten ein für eine menschenwürdige und gerechte Asylpraxis.
  • Der Einsatz für den Umweltschutz im kirchlichen Raum hilft mit, das gesellschaftliche Bewußtsein für die Notwendigkeit eines nachhaltigen Wirtschaftens zu stärken. Das Engagement vieler Christen für die Erhaltung der natürlichen Grundlagen des Lebens hat aber nicht allein in der Gründung gesonderter kirchlicher Umweltinitiativen, sondern vor allem auch in der Mitarbeit in den allgemeinen Umweltverbänden seinen Ausdruck gefunden.

(253) Die Verkündigung des Wortes Gottes, seine Zuwendung zu allen Menschen, steht im Mittelpunkt kirchlichen Handelns. Die Kirche bezeugt Gottes Zuspruch und seinen Anspruch auf das ganze Leben. Ein Leben aus der Gnade Gottes nimmt die Angst, zu kurz zu kommen, und schenkt zugleich Mut und Zuversicht zum Handeln. Deshalb ist diese Verkündigung nicht nur auf den einzelnen in seiner unvertretbaren Freiheit, sondern ebenso auf die strukturellen - sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen - Bedingungen seiner Existenz gerichtet. Die Kirchen dürfen sich nicht in einer Nische der pluralistischen Gesellschaft mehr oder weniger bequem einrichten. Ihre Verkündigung muß sich auch darin bewähren, daß sie Ferment einer gerechten und solidarischen Gesellschaftsordnung wird.

(254) Die Verkündigung der Kirchen ist angewiesen auf eine sensible und nüchterne Wahrnehmungsfähigkeit und Wahrnehmungsbereitschaft. So leben z. B. Menschen, die unter Arbeitslosigkeit oder Armut leiden, oft auch mitten in der kirchlichen Gemeinschaft und doch an der Peripherie sozialer Wahrnehmung. Nur wenn die nicht unmittelbar Betroffenen eine entsprechende Wahrnehmungsbereitschaft entwickeln, setzt ein Prozeß des Verstehens ein. Wahrnehmungsbereitschaft und Wahrnehmungsfähigkeit setzen Einfühlungsvermögen voraus. Sie wachsen mit der Kenntnis von wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen, von ethischen Normen und Wertmaßstäben und vom christlichen Menschen- und Gesellschaftsbild. Die Predigt muß noch mehr die Lebenswirklichkeit der Menschen aufgreifen und im Lichte des Evangeliums und der an ihm orientierten christlichen Sozialethik deuten.

(255) Zu den in der Wirkung bedeutsamsten kirchlichen Handlungsmöglichkeiten gehören Bildung und Erziehung. Auch hier versuchen die Kirchen, Menschen zu einem wertbezogenen Handeln im persönlichen, sozialen und politischen Bereich zu befähigen. Dies geschieht in den Gemeinden und Verbänden, in der Erwachsenenbildung, in der Arbeit der kirchlichen Akademien und Sozialinstitute sowie in den vielfältigen Formen kirchlicher Präsenz im staatlichen Bildungsbereich. Mit ihren öffentlichen Stellungnahmen, Denkschriften und Diskussionsbeiträgen tragen die Kirchen zur ethischen Urteilsbildung und zur gesellschaftlichen Konsensbildung bei. Von besonderer Bedeutung sind der Religionsunterricht in der Schule, auch und vor allem in der berufsbildenden Schule, das kirchliche Bildungs- und Erziehungsangebot durch eigene Schulen, Internate und Kindergärten, aber auch die Präsenz der Kirchen an den Hochschulen und Universitäten. Hier ereignet sich die Vermittlung von Werten, die für das Zusammenleben der Gesellschaft grundlegend sind.

(256) Das kirchliche Leben hat im Gottesdienst sein Zentrum. Im Gottesdienst empfängt die Kirche Gottes Gabe und antwortet mit Gebet, Bekenntnis und Lob. Diese Antwort ist vor allem Dank. Wer aus dem Dank lebt, kann die ganze Wirklichkeit als verdankt verstehen und darum mit größerer Zuversicht an die Aufgaben herangehen, die sich dem wirtschaftlichen und sozialen Handeln stellen. Gesellschaftliches Handeln der Christen verliert an Kraft, wenn es nicht mehr an das Beten und Feiern zurückgebunden ist. Im Gottesdienst werden die Christen zum Weltdienst befreit und beauftragt. Wenn Christen Gottesdienst feiern, treten sie dem radikal Anderen und doch Nahen gegenüber, dem persönlichen Gott, der zum Dienst sendet.

 

6.3 Der Dienst der Kirchen für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit

(257) Die Kirchen sollen erfahrbar werden als

  • Orte der Orientierung, an denen aus dem christlichen Glauben heraus das Fragen nach Sinn und Ziel des menschlichen Lebens und des Lebens der Gesellschaft wachgehalten wird;
  • Orte der Wahrheit und der realistischen Sicht des Menschen, wo Ängste, Versagen und Schuld nicht vertuscht werden müssen, weil um Christi willen immer wieder Vergebung und Neuanfang geschehen;
  • Orte der Umkehr und Erneuerung, an denen Menschen sich verändern, auf ihre Mitmenschen und ihre Nöte aufmerksam werden und alte Verhaltensweisen ablegen;
  • Orte der Solidarität und Nächstenliebe, an denen untereinander und für andere die je eigene Verantwortung bejaht und praktiziert wird;
  • Orte der Freiheit, an denen erfahren werden kann, daß Freiheit und Bindung, Selbstentfaltung und Verbindlichkeit nicht Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen und genau dieser wechselseitige Bezug für ein gelingendes Leben wichtig ist;
  • Orte der Hoffnung, an denen Perspektiven gesucht werden für eine sinnvolle Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens und an denen bei dieser Suche der Blick über das Heute hinaus geöffnet wird.

(258) Wenn der Konsultationsprozeß ein so großes Echo in der Öffentlichkeit und bei den gesellschaftlich relevanten Gruppen gefunden hat, dann nicht zuletzt deshalb, weil von vielen Seiten damit die Hoffnung verbunden wird, die Kirchen könnten mit dazu beitragen, daß überfällige Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft in Gang kommen. Gesellschaft und Staat sind darauf angewiesen, daß an die ethischen Voraussetzungen einer freiheitlichen und sozialen Rechtsordnung erinnert wird und daß an dem Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auch Kräfte teilnehmen, die nicht partei- und interessengebunden sind. Im Rahmen einer solchen Mitverantwortung tun die Christen und die Kirchen ihren Dienst an der Gesellschaft für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.

 

 

Vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Gemeinsame Texte

1 Organtransplantationen (1990)

2 Berechtigte Ansprüche zu einem gerechten Ausgleich bringen (1991)

3 Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (1994)

4 Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die Europäische Union (1995)

4a The Relationship of Church and State - A Perspective on the European Union (1995)

4b Les relations entre l'Etat et l'Eglise au regard de l'Union européenne (1995)

5 Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in den neuen Bundesländern (1995)

6 Im Sterben: Umfangen vom Leben (1996)

7 Wissenschaftliches Forum zum Konsultationsprozeß (1996)

8 Aufbruch in eine solidarische und gerechte Zukunft (1996)

 

1 Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage. Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen, Gemeinsame Texte 3, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1994.

2 Dokumentiert in: Gemeinsame Texte 7, 1995.

3 Dokumentiert in: Aufbruch in eine solidarische und gerechte Zukunft, Gemeinsame Texte 8, 1996; vgl. auch: Arbeitsmaterialien zur Berliner Konsultation, hg. vom Katholisch-Sozialen Institut (KSI) der Erz-diözese Köln, Bad Honnef, und Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (SWI), Bochum, 1996.

4 Dokumentiert und aufgeschlüsselt in: Alle Eingaben zum Konsultationsprozeß mit Lesehilfen inclusive CD-ROM, hg. vom KSI, 1996. Vorgesehen ist noch die Herausgabe einer Textsammlung mit einer Auswahl besonders bemerkenswerter Stellungnahmen; dieser Reader, der auf typische und markante Aussagen, Anliegen und Anregungen des Konsultationsprozesses aufmerksam machen soll, wird derzeit vom SWI vorbereitet.

5 Vorwort der Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß, a.a.O., S. 5.

6 Verabschiedung durch die Deutsche Bischofskonferenz am 19. Februar 1997, den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 21. Februar 1997; gemeinsame Endredaktion am 22. Februar 1997.

7 Zu den Herausforderungen durch Flucht und Migration ist ein eigenständiges Wort der Kirchen in Vorbereitung, das demnächst erscheinen soll.

8 Gemeinwohl und Eigennutz. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, 1991, Ziff. 155.

9 Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 82, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1987, Ziff. 39.

10 Vgl. dazu: Unsere Verantwortung für den Sonntag, Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, 1988.